Kürzlich las ich in der ZEIT von einer Klage eines Pflegeheimbetreibers: Der Mühlenhof in Steinen hatte seine Bewohnter und Mitarbeiter impfen lassen und beantragte daraufhin beim Landratsamt Lörrach, seine Cafeteria ausschließlich für Hausgäste wiedereröffnen zu dürfen. Dies wurde ihm untersagt, weshalb er vor dem Verwaltungsgericht Freiburg klagte, wo er ebenfalls abgewiesen wurde. Und zwar mit der Begründung, man wolle keinen „Präzendenzfall“ schaffen – schließlich würde dann alle Heime, die in einer vergleichbaren Situation sind, ebenfalls öffnen wollen. Man hätte auch einfach sagen können: Da könnte ja jeder kommen.
Dies ist eine ziemlich schwache Begründung für die Entscheidung des Gerichts, und man könnte sich zu Recht empören. Viel bedenklicher finde ich jedoch, dass die dieser juristischen Angelegenheit zugrunde liegende ethische Frage nicht beantwortet wurde, ihr vielmehr ausgewichen wurde.
Im Folgenden möchte ich darlegen, warum ich die Begründung des Urteils zwar für falsch (oder mindestens unangemessen) halte, das Urteil jedoch für richtig – so sehr ich den BewohnerInnen des Pflegeheims auch eine Öffnung wünschen würde.
Es wird viel moralisiert in diesen Tagen, und es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen: wer gegen wen die Moral bemüht, welche Art von Moral und mit welcher Begründung (oder: mit welchem Interesse?). Allzu häufig wird so getan, als sei Ethik und Moral das Gleiche, so sei hier zunächst eine begriffliche Klärung angebracht.
Moral (lat. Mores, die „Sitten“) bezeichnet eine gesellschaftliche Praxis, die auf sittlicher Übereinkunft beruht. Diese kann allerdings von Zeit zu Zeit erheblich variieren. So war bis vor gar nicht allzu langer Zeit Rassentrennung, Prügelstrafe, Verbot von Homosexualität etc. fester Bestandteil der Moral westlicher Gesellschaften, einige Jahrhunderte zuvor galt dies für Sklaverei, Hexenverbrennung und andere Dinge. Jedesmal wurde diese Praxis von Philosophen und Theologen moralisch begründet und legitimiert. Heute meinen wir oft, sie müssen sich geirrt haben.
Ethik dagegen beruht auf dem umfassenden Entwurf eines „gelingenden Lebens“, der universell und allgemein gültig sein soll. Damit steht die Ethik stets im Spannungsfeld unterschiedlicher Gruppen und Kulturen mit sehr unterschiedlichen Moralvorstellungen. Dies führt häufig dazu, dass ethische Prinzipien als „Minimalkonsens“ oder als „kleiner gemeinsamer Nenner“ missverstanden werden. Auch sind sie in ihrer Anwendung auf die konkrete Praxis immer auslegungsbedürftig. Keine Frage: Ethik macht Arbeit. Moral orientiert sich im Zweifelsfall daran, was alle anderen auch machen.
Im angesprochenen Streitfall geht es um eine neue Situation, die ethisches Denken erfordert, da eine etablierte Moral schlicht nicht vorliegt. Die Aussicht, im Tausch gegen eine Impfung ein Stück Freiheit zurückzugewinnen, ist trostreich und klingt nebenbei noch nach einem guten Geschäft. Aber ist es das wirklich?
Dass in der Öffentlichkeit aktuell über „Privilegien für Geimpfte“ debattiert wird, ist eine Verirrung, die entweder von Unkenntnis der Rechtslage zeugt oder einer perfiden Umgehungsstrategie. Denn der Besuch einer Cafeteria, eines Konzerts oder eines anderen Landes sind keineswegs Privilegien, sondern Grundrechte (der Freizügigkeit und der freien Persönlichkeitsentfaltung u.a.). Sollen diese nun auf Dauer suspendiert bleiben, und unter den Vorbehalt einer Impfung gestellt werden? Wird uns dann das, was als Grundrecht teuer erkauft ist, als ein Privileg billig angeboten?
Hier kommen wir nicht weiter, ohne den Begriff der „Menschenwürde“ einzuführen, gerade weil es ja um verletzliche und hilfsbedürftige Mitmenschen geht. Und die Rede von der Würde aller Menschen und deren unveräußerlicher (!) Menschenrechte ist eben keine Kleinigkeit, da diese Rechte allen Menschen – unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht und Gesundheitsstatus (!) – zustehen. Und dies ist das Beste, was klassische Philosophie, christliche Tradition und aufklärerisches humanistisches Denken hervorgebracht haben – ein Niveau, hinter das wir unter keinen Umständen, schon gar nicht in einer Notlage zurückfallen sollten.
Gerade in Krisenzeiten muss sich die Menschenwürde und das Grundgesetz bewähren. Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren und unsere Grundrechte für die Aussicht einer schnellen Besserung opfern. Schon gar nicht sollen wir sie gegen die Privatmoral einiger Oligarchen eintauschen, die gern mehr Einfluss gelten machen möchten als ihnen eigentlich zustünde.
Heribert Prantl formuliert in seinem lesenswerten Buch „Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne“ eindrücklich: Grundrechte dürfen nicht unter Pandemievorbehalt stehen. Denn sobald sie an Bedingungen geknüpft werden (etwa eine Impfung), verlieren sie tatsächlich den Charakter von Grundrechten und sind lediglich Privilegien, die vom Staat nach Gutdünken gewährt oder nicht gewährt werden. Und dann haben wir keine Grundrechte mehr.
Vor diesem Hintergrund muss ich die Öffnung von Restaurants, Theatern und anderen Orten, die mir lieb sind, entschieden ablehnen, wenn sie als Vorwand dazu dient, Grundrechte – und damit unsere Verfassung – abzuwerten, de facto außer Kraft zu setzen. Es ist möglich, dass diejenigen Politiker, die „Privilegien für Geimpfte“ propagieren, nicht wissen, dass sie damit offen für Verfassungsbruch werben. Genauso gut ist aber möglich, dass sie es wissen und ihre Chance wittern.
So sehr ich es den BewohnerInnen des Mühlenhofs wünschen würde, wieder ihre Cafeteria zu besuchen, so gerne ich selber wieder Restaurants und Konzerte besuchen würde: wir müssen noch eine Weile durchhalten, bis diese Frage angemessen diskutiert wurde. Bisher drücken sich die Vertreter unserer Regierung und der von ihnen bestellte Ethikrat (!) standhaft um eine Klärung. Wir sollten sie von ihnen fordern. Und wenn sie uns dann ehrlich sagen sollten, dass die Weichen schon gestellt sind und die von ihnen geleugnete Impfpflicht eben auf anderem Wege durchgesetzt wird – indem eine Zwei-Klassen-Gesellschaft aus Privilegierten und Nicht-Privilegierten geschaffen wird -, dann wissen wir wenigstens, mit wem wir es zu tun haben.
Dann hätten sich die Grundlinien unserer Gesellschaft bereits erheblich verschoben.
Eine weitere hoch problematische Praxis ist das Testen. Derzeit wird es zum einen dazu verwendet, provisorische Zugänge zu bestimmten Tätigkeiten (Schulbesuch etc.) zu ermöglichen, zum anderen, möglichst hohe Fallzahlen zu generieren. Was mir daran nicht gefällt, möchte ich im Folgenden erklären, allerdings muss ich hierzu etwas ausholen:
Unser europäisches Rechtsverständnis hat seine Grundlage im römischen Recht, dessen wichtigstes Prinzip die Unschuldsvermutung ist – in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Dieses Prinzip gilt seit dem 11.9.2001 nicht mehr, denn im Zuge des „Krieg gegen den Terror“ wurden zahlreiche neuartige „Anti-Terror-Gesetze“ verabschiedet, die es erlauben, in jedem Menschen potenziell einen „Gefährder“ zu erkennen. Allein die Vermutung, dass solche Leute vorhaben, in der Zukunft einen Terroranschlag zu begehen (was nicht einmal bewiesen werden muss), reicht aus, sie vor der Ausübung der vermeintlichen Tat auf den puren Verdacht hin zu überwachen und sogar festzunehmen – ohne Anklage, ohne Verhandlung. Da sie die ihnen unterstellte Tat ja noch nicht begangen haben, kann ihnen einen Schuld nicht bewiesen werden. Es ist genau umgekehrt: Sie müssen beweisen, dass sie unschuldig sind. Nur wie macht man das?
Eine ganz ähnliche Verkehrung unserer Rechtspraxis begegnet uns aktuell in der „epidemischen Notlage nationaler Tragweite“: Wir dürfen fortan nicht mehr davon ausgehen, dass wir es mit prinzipiell gesunden Mitmenschen zu tun haben (die normalerweise nicht krank und auch nicht ansteckend sind), sondern wir müssen befürchten, dass jeder Mensch, dem wir begegnen, ein potentielles Ansteckungsrisiko darstellt – möglicherweise ein tödliches.
Dieses Denken üben wir seit einem Jahr: Der Mitmensch, der ja selber nicht weiß, dass er das todbringende Virus in sich trägt, kann mich umbringen, wenn ich ihm zu nahe komme. Es gilt nicht mehr die „Gesundheitsvermutung“, sondern das genaue Gegenteil. Und das Gegenüber muss seine Gesundheit selber beweisen – durch einen Schnell- oder besser noch einen PCR-Test. Wir müssen folglich auch nicht erst handeln, wenn jemand erkrankt (und die Erkrankung durch eine ärztliche Diagnose bestätigt wird), sondern schon vorher: also eigentlich immer. So wird künftig jeder, der irgendwas arbeiten, oder einkaufen, oder gar Freizeiteinrichtungen besuchen möchte, im Voraus allen seine epidemische Unschuld beweisen müssen.
Auch hier gilt: So verlockend die Aussicht ist, durch einen billigen (bei Aldi erhältlichen) Schnelltest sich ein kurzzeitig gültiges Recht zu erwerben, Konzerte oder andere Veranstaltungen zu besuchen – und auch das klingt erstmal nach einem guten Geschäft -, so führt diese neuartige Praxis zu einer langfristigen Verschiebung gesellschaftlicher Grundlinien.
Auch hier möchte ich dafür werben, sich nicht verunsichern zu lassen oder ungeduldig zu werden, bis die dringenden ethischen Fragen geklärt sind. Es wäre äußerst schädlich für die Gesellschaft, wenn der Einzelne nur aus Bequemlichkeit dauerhaft zur Testung geht. Vorsicht ist daher auch geboten bei aller Moralisierung von seiten der Politik und der Medien, die uns Impfen als Akt der Nächstenliebe und Testen als Weg in die Freiheit verkaufen möchten.
Ich möchte wiederholen: Alle Moral, gleich welche Interessengruppen sie vertreten, muss ich an den ethischen Standards messen lassen, die unsere Zivilisation in über 2000 Jahren als kulturelle Leistung hervorgebracht hat. Und selbst dann, wenn man uns glauben lassen möchte, wir befänden uns im Krieg, und daher eine Art Kriegsrecht zu gelten habe.
Vielleicht muss man es sogar noch deutlicher sagen: Wer uns verspricht, wir würden durch Impfen und Testen unser altes Leben zurück erhalten, der sagt uns einfach nicht die (ganze) Wahrheit.
Heribert Prantl schreibt: „Wer die Gesundheit über alles andere stellt, macht Politik unmöglich.“ Und ich möchte ergänzen: so ziemlich alles andere auch.
Wir sitzen in einer handfesten moralischen Zwickmühle, aus der uns meiner Ansicht nach nur ein Blick auf eine überstaatliche und überzeitliche Ethik heraushelfen kann. Wer uns da hineingeführt hat, ist im Einzelfall schwer auszumachen, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass unsere Regierungen durch ihr planloses und hektisches Agieren mit dazu beigetragen haben.
Wer sich heute der von der Regierung und den mit ihr übereinstimmenden Medien veranstaltete Impfdrängelei widersetzt, riskiert Ärger und bekommt den Eindruck vermittelt, er säge – gerade als Kulturschaffender – an seinem eigenen Ast. Es könnte aber auch sein, dass wir alle, indem wir uns an den Impf- und Testkampagnen beteiligen, gleich den ganzen Baum fällen.
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