Ein Öffnungsprogramm für Kunst und Kultur

Die titelgebende Aussage für diesen Text stammt von der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Auf ihrer Pressekonferenz vom 26.1. kündigte sie das Ende aller Corona-Maßnahmen für den heutigen 1.2. in Dänemark mit folgenden Worten an:

„Wir können anfangen, unsere Schultern zu senken und unser Lächeln wiederzufinden. Wir können jetzt die letzten Corona-Beschränkungen in Dänemark aufheben. Ab dem 1. Februar ist Dänemark wieder geöffnet – ganz geöffnet.“

Ab dem 1. Februar werde Corona „nicht mehr als gesellschaftskritische Krankheit eingestuft“, so die Regierungschefin. Und dass sie diese Entscheidung nicht aus reiner Sorglosigkeit oder gar Naivität getroffen hat, zeigt ihre folgende Aussage:

„Wir erwarten in naher Zukunft höhere Infektionszahlen. Es wird noch lange weit verbreitete gesellschaftliche Infektionen geben. Dies wird in nächster Zeit ein Problem sein. Viele werden krank werden. Es wird Absagen geben. Es kann schwierig sein, Schichtpläne einzuhalten. Wir appellieren an alle, die gute Laune in dieser schwierigen Zeit nicht zu verlieren.“

Ich finde das sehr bemerkenswert. Da entscheidet sich eine Staatschefin gemeinsam mit ihren wissenschaftlichen Beratern unter großer Rückendeckung durch die Bevölkerung dafür, dass wir (in diesem Fall zunächst die Dänen) fortan mit dem Virus leben können.

„Wir sind durch die kritische Phase durch. Wir sagen «Auf Wiedersehen» zu den Beschränkungen und «Willkommen» zu dem Leben, das wir vor Corona kannten.“

Zu diesem Leben „vor Corona“ zählt die Abschaffung der Maskenpflicht und der Impf-, Genesungs- und Testnachweise. Konzerte und Fußballspiele sind ohne Teilnehmerbegrenzung erlaubt. Restaurants, Kneipen und Clubs dürfen ohne Einschränkung öffnen.

Hierzulande werden derlei Nachrichten noch mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen: Dürfen die das? Ist das nicht leichtsinnig? Sollte man nicht vorsichtiger sein? Ein Blick in das nördlichste Bundesland, Schleswig-Holstein, zeigt, dass der dänische Mut durchaus ansteckend sein kann – dort werden die ersten Öffnungsschritte verkündet … und sicherlich nicht nur, weil dort demnächst Landtagswahl ist und man den Bürgern gefallen möchte, sondern weil der dänische Weg aus der Pandemie tatsächlich viele gute und überzeugende Argumente auf seiner Seite hat.

In Dänemark erleben wir eine Regierung, die ihren Bürgerinnen und Bürgern offenbar ein großes Vertrauen entgegenbringt. Man geht davon aus, dass die Bevölkerung die neuen Freiheiten nicht nur dankbar annimmt, sondern auch in der Lage ist, mit ihnen verantwortungsvoll umzugehen. In Deutschland dagegen habe ich über weite Strecken das Gefühl, die Regierung behandle ihre Bürger wie kleine Kinder, die nicht imstande seien, eigenverantwortlich zu handeln. Darum meint sie auch uns vorschreiben zu müssen, mit wie vielen Leuten wir uns wo und zu welchem Zweck treffen dürfen – und wir müssen auf jeden Fall vor 22h wieder zuhause sein.

Dass eine solche Bevormundung Abwehrreaktionen hervorruft, ist nur natürlich. Dass sie sich nicht mit unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung verträgt und nebenbei viele verfassungswidrige Züge aufweist, kommt noch hinzu. Und wenn nun Innenministern und „Verfassungsschützern“ nichts Besseres einfällt, als diejenigen Bürger, die friedlich dagegen demonstrieren, zu „Staatsfeinden“ zu erklären, erreicht die gegenseitige Entfremdung ihren traurigen Höhepunkt. Wer hat eigentlich damit angefangen, und warum überhaupt?

Es wird höchste Zeit, verbal abzurüsten. Und es sollte nicht vorrangig darum gehen, auf der jeweiligen Gegenseite die Schuldigen zu finden, sondern die Gräben zuzuschütten, die sich kreuz und quer durch die Gesellschaft ziehen, und gemeinsame Perspektiven für die nachpandemische Zeit zu entwickeln. Perspektiven, die nicht von abstrakten Hoffnungen getragen sind, sondern von konkreten gemeinsamen Projekten – von Dingen, die zusammenschweißen.

Darum ist es klug, sich für das Feiern auszusprechen, für Festivals und für Umarmungen – jeder, wie er möchte. Nach einer langen Phase des Social Distancing müssen wir wieder lernen, einander zu spüren.

Im Folgenden möchte ich ein paar behutsame Vorschläge machen, wie das gehen kann, und weitere Gründe dafür anführen, warum ich dieses Vorgehen für richtig und notwendig halte.

Wiederherstellung der Resonanzachsen

Der Soziologe Hartmut Rosa führt in seinem Werk „Resonanz – Soziologie der Weltbeziehungen“ Resonanz als Maß für Lebensqualität an. In verschiedenen Lebensbereichen macht er Resonanzachsen aus, die für unsere Verbindungen in verschiedenen Bereichen stehen – politisch, kulturell, religiös und ökologisch. Werden sie vernachlässigt oder gar unterbrochen, erzeugt dies Entfremdung, und damit den Verlust an Lebensqualität.

In der politischen Sphäre haben sich Regierung und Bevölkerung seit 2020 zweifellos voneinander entfremdet. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, vom Diskurs ausgeschlossen zu sein, insbesondere wenn sie Regierunghandlungen kritisch hinterfragen. Die Regierung teilt sich dem Volk vorwiegend in Form von Verordnungen mit und degradiert ihre Bürgern damit zu reinen Befehlsempfängern.

Vor dem Hintergrund einer akuten Notlage kann man dies eine Zeitlang akzeptieren. Wo sich eine solche Form der Kommunikation von oben herab jedoch verstetigt, verstetigt sich auch das Entfremdungsgefühl. Wird diese Art von Herrschaftssprache dann noch einfach nach unten weitergegeben, festigt sich die Entfremdung auf allen Ebenen. Wenn Vereinsmitglieder oder Mitglieder von Kulturinstitutionen erleben müssen, dass ihre Vorstände und Leitungsgremien ebenfalls nur Verordnungen an sie durchreichen – oft mit dem Hinweis, diese sollen bitte nicht „diskutiert“ werden -, werden auch hier Resonanzachsen unterbrochen.

Ehrliche und offene Kommunikation

Um diesen verhängnisvollen Trend umzukehren, ist es notwendig, sich in beidseitiger Offenheit zu üben, die Kommunikation persönlicher, freundlicher und resonanter zu gestalten. Damit ist nicht gemeint, dass die Weitergabe von Verordnungen einfach in nette Worte verpackt wird. Dies geschieht ohnehin, wird jedoch sofort entlarvt, wo es nicht ehrlich, sondern in manipulativer Absicht getätigt wird. Gemeint ist vielmehr, dass die Kommunikation von einem echten Interesse am Gegenüber getragen wird und tatsächlich offen geführt wird: also ohne Erwartung eines konkreten Ergebnis auf Seiten des Gegenübers.

Weitere Resonanzachsen: Religion, Kultur und Natur

In Zeiten der Trübsal kann die Kirche ein Ort sein, an dem die Menschen Trost und Zuspruch erfahren. Die Kirche hat diesen Anspruch jedoch nicht erfüllt. In der Pandemie gab sie sich staatstragend und leistete keinerlei Widerstand, etwa als 2020 das Osterfest – das höchste christliche Fest – „aus Sicherheitsgründen“ verboten wurde. Trauerfeiern und Hochzeiten wurden abgesagt, es wurde empfohlen, auf den Gottesdienstbesuch zu verzichten und dafür TV-Gottesdienste anzuschauen. Die Botschaft „Fürchtet euch nicht“ war an Weihnachten nicht zu hören – sie wurde übertönt von Absagen und Aufrufen, die Maßnahmen einzuhalten.

In katholischen Gottesdiensten, die ich zum Musizieren besucht habe, wurde der liturgische Friedensgruß erst umgearbeitet von „Reicht euch zum Zeichen des Friedens die Hände“ in: „Schenkt euch zum Zeichen des Friedens ein Lächeln“, und schließlich ganz weggelassen. Liederbücher wurden weggeschlossen, es hätten sich ja Menschen daran infizieren können.

Auch die Kultur wurde von den politischen Entscheidungen hart getroffen. Obwohl schon im Herbst 2020 bekannt war, dass Kulturinstitutionen keine Orte der Ansteckung waren, regte sich unter den Verantwortlichen jedoch kein Widerstand, als ein nicht enden wollenden Kultur-Lockdown verhängt wurde. Wie die Kirche war Kultur staatstragend geworden – aus dem Wunsch heraus, als „systemrelevant“ gelten zu können?

Mit dem Wegfall von Kunst und Kultur als Ort der Resonanz blieb die Natur als letzte Resonanzsphäre übrig. Viele nutzten die Zeit des Lockdowns für ausgiebige Wanderungen und machten eine ganz neue Erfahrung: sie konnten die Natur als Ort der Freiheit und als Schutzraum erleben, in dem sie zu sich selber kommen können. Sich wieder mit der Natur zu verbinden, sie zu erleben und zu spüren, kann unseren Blick auf unser Weltverhältnis total verändern, und dies gilt nicht nur für den großen Bereich der „Nachhaltigkeit“, sondern auch auf die unsichtbare Welt der Mikroben.

Nehmen wir das Virus als Feind der Menschheit wahr, gegen den es „Krieg“ zu führen gilt? Oder ist es möglich, wie manche Forscher meinen, dass Viren Träger genetischer Information sind, welche die Evolution voranbringen? Sollte es uns dann nicht möglich sein, die Millionen Jahre währende friedliche Koexistenz der Menschheit mit dem Virom fortzusetzen?

Sagt unser Umgang mit Krankheiten nicht auch sehr viel über uns und unser Weltverhältnis aus? Sind wir derart entfremdet von uns selbst und der Natur, dass wir gleich das Militär rufen, wenn uns eine Krankheit bedroht? Fällt uns wirklich nur Technologie ein (Impfen, Testen, Tracken), wenn wir an Gesundheit denken? Halten wir unseren Körper für nichts weiter als für eine Maschine, die „repariert“ werden muss?

Gesundheit und Krankheit

Bis 2020 durften wir davon ausgehen, dass von unserem Gegenüber keine tödliche Gefahr ausgeht. Leider wurde uns durch einen überwiegenden Teil der medialen Berichterstattung der vergangenen zwei Jahre das genaue Gegenteil suggeriert. Dieser Trend muss sich schleunigst umkehren, und ich vermute, dass wir selbst dafür sorgen müssen. Es würde unser gesellschaftliches Miteinander sehr erleichtern, wenn wir keine Angst mehr vor einander haben müssen.

In der neuen, nachpandemischen Zeit sollte niemand mehr beweisen müssen, dass er oder sie gesund ist. Wir dürfen einfach wieder stillschweigend davon ausgehen. Wo dies nicht der Fall ist und Menschen unter Krankheiten leiden, verdienen sie unser Mitgefühl und unsere Zuwendung. Sie haben es nicht verdient, als „Gefährder“ zu gelten. Im Fall einer ansteckenden Krankheit (etwa einer Virusinfektion) ist es ein Zeichen von Umsicht und Höflichkeit, dass sie sich eine Zeitlang nicht unter Leute begeben. Dies sollte aber nichts sein, worüber man sich das Maul zerreißt.

Datenschutz und IT

Darum können auch Kontaktnachverfolgung und Überwachung wieder aufhören. Inzwischen dürfte hinlänglich bekannt sein, dass die „luca“-App nichts taugt – sie sollte nicht mehr genutzt werden, um Gastronomie und Kultur zu schikanieren. Auch die „Corona-Warn-App“ der Bundesregierung ist fehleranfällig und hat vielen Menschen unnötige Quarantänezeit beschert. Dazu kommt, dass sich hinter der Nutzung solch hilfreicher Dienste oft der Versuch verbirgt, neue Kontrollsysteme erst zu testen und bald danach einzuführen.

Denn was daraus folgen kann, kann man sich leicht denken. Wer es wissen will, findet die entsprechenden Pläne sogar ganz offen: die Zusammenführung der „Warn-Apps“ mit dem Personalausweis, perspektivisch auch mit Steuerdaten und der Elektronischen Patientenakte, in Verbindung mit biometrischen Identitätsnachweisen. Dies bedeutet: Wir dürfen uns nur noch frei bewegen, wenn wir immer und überall Gesundheitsnachweise mit uns führen. Und was wir alles nachzuweisen müssen, kann jederzeit und willkürlich geändert werden. Dies alles wäre schon Grund genug, die weitere Nutzung solche Tracking-Systeme vollständig abzulehnen. Aber es gibt noch weitere.

Freiheit von GAFAM

Viele von uns scheinen nicht zu wissen, dass unserer Regierungen inzwischen die Verwaltung unserer Daten den einschlägigen Big Tech-Firmen anvertraut haben. Dies sollte eigentlich nicht sein, zumal Firmen wie Google, Facebook, Amazon, Microsoft und Apple alle ihren Sitz in den USA haben und damit dem Patriot Act unterliegen. Behörden hierzulande reden sich damit heraus, dass der öffentlichen Hand die Infrastruktur fehlt und etwa Amazon die größten Cloud-Anbieter und Microsoft die größten Anbieter von Office-Anwendungen sind. Dass diese Konzerne aber unsere Daten nicht nur sammeln, sondern auch auswerten und an Militär und Geheimdienste weiterreichen, sollte als Begründung genügen, sich aus der Abhängigkeit von ihnen zu befreien.

Kulturschaffenden und Privatpersonen sei dringend geraten, sich unabhängig von „Diensten“ wie Facebook und Youtube zu machen. Es gibt inzwischen genügend Anbieter der „Open Source“-Bewegung, die einen unabhängigen und sicheren Datenverkehr ermöglichen. Auch die weitere Nutzung von Streaming-Diensten und Videokonferenzsystemen sollte nicht zu neuen Abhängigkeiten führen.

Barrierefreiheit und Nichtdiskriminierung

Lange Zeit galt in unseren Vereinen und Institutionen das Versprechen, dass niemandem, aus welchen Gründen auch immer, der Zugang zur kulturellen Teilhabe verwehrt sein sollte – im Gegenteil, bemühten wir uns doch um Integration und Inklusion. Mit der Einführung der „2G“-Regel im Herbst 2021 wurde auf einmal Ausgrenzung Nicht Geimpfter und Nicht Genesener zur Norm erhoben – und schlimmer noch: Wir wurden dazu genötigt, diese Ausgrenzung selber zu praktizieren.

Aus meiner Sicht markiert das einen Dammbruch. Es führte nicht nur dazu, dass wir uns daran gewöhnten, unsere eigenen Mitglieder auszuschließen. Es setzte sich auch – medial befeuert – die Vorstellung durch, die „Ungeimpften“ seien „schuld“ daran, dass die Pandemie nicht zu Ende gehen wollte. Dass sich dieses Narrativ längst als unwahr erwiesen hat, ist nur teilweise beruhigend, erschrecken sollte uns, wie viele von uns sich aus Unwissenheit dazu haben hinreißen lassen, in den Chor der Diffamierer einzustimmen.

Ich meine, wir hätten das „2G“-Regime (und selbst „3G“, was die Vorstufe dazu darstellte) niemals akzeptieren sollen. Denn weitergedacht könnten jederzeit neue Gründe gesucht und gefunden werden, warum man Menschen aus unserer Mitgliedschaft von kultureller Teilhabe ausschließen müsste: etwa weil man „rechte“ Gesinnung bei ihnen vermutet, oder ihr ökologischer Fußabdruck zu groß ist. Wer weiß schon, was da noch auf uns zukommt. Daher sollte uns dies eine Lehre sein, nie jemals wieder einer solchen Diskriminierung zuzustimmen.

Spaltung überwinden

In unserer offenen demokratischen Gesellschaft sollte es eigentlich problemlos möglich sein, unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen zu hören, zu reflektieren und in den öffentlichen Diskurs zu integrieren. Gerade der Kulturbereich lebt von der Vielzahl unterschiedlicher Stimmen und Charaktere. Es ist nicht nur bedauerlich, wenn sich Debatten auf eine vorherrschende Anschauung verengen, sondern auf lange Sicht zersetzend und zerstörerisch.

Selbstverständlich dürfen wir auch weiterhin davon ausgehen, dass alle am Diskurs Beteiligten nur das Beste wollen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir frei von Irrtümern sind. Auch darf das Argument, es ginge um den „Gesundheitsschutz“, nicht als Totschlagargument gegen alle anderen missbraucht werden. Wer alles unter einen Gesundheitsvorbehalt stellt, macht Kultur (und alles andere gesellschaftliche Tun) unmöglich.

Es würde schon sehr helfen, wenn wir in unseren Gesprächen das Moralisieren zu vermeiden suchen. Gerade gesundheitliche Themen sind dazu geeignet, jeder Aussage einen Anschein von moralischer Legitimität zu verleihen (und anders lautende Beiträge abzuwerten). Es ist aber dringend nötig, dass wir über das Moralische hinaus zu einer Ethik kommen, die viel mehr einschließt als die (körperliche) Gesundheit.

Ethik und Ganzheitlichkeit

Im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahre fiel mir auf, dass so gut wie alle Vorschläge und Maßnahmen zur Pandemiebewältigungen einen technokratischen Charakter hatten. Dies kommt mir sehr einseitig vor. Zu Recht wird inzwischen darauf hingewiesen, man müsse auch psychologische, soziologische, wirtschaftliche und rechtliche Faktoren heranziehen. Denn erst dann lässt sich wirklich abschätzen, welche Maßnahmen welchen Nutzen und welche unerwünschten Nebenfolgen haben.

Alles nur auf Impfen, Testen und Tracken abzustellen, verkennt die ganzheitliche Natur unseres Daseins. Gesundheit ist ja nicht allein die Abwesenheit von Krankheit, sondern sollte das seelische und geistige Wohl des Individuums sowie unserer Kollektive und Systeme mit einschließen. Eine Ethik, die auf das „gute und gelingende Leben“ abzielt, sollte dies im Blick haben – wir sind gefordert, neu zu denken.

Singen und Atmen

Wohl in kaum einem anderen Bereich haben sich die oben beschriebenen Problemstellungen so zugespitzt wie beim gemeinschaftlichen Singen. Galt Chorsingen bis zum März 2020 nach einhelliger Meinung als gesund und gemeinschaftsfördernd, wurde es seither als „gefährlich“ und „ansteckungsfördernd“ gebrandmarkt. Horrornachrichten von Chorproben als „Superspreader-Events“ wurden medial gestreut und verbreitet. Schuld seien die Aerosole, die beim Singen durch die Atemluft verbreitet werden und potenziell tödliche Viren transportieren können.

Es ist möglich, dass wir diese neue Erzählung – dass Singen gefährlich und potenziell tödlich sei – nicht so schnell wieder aus unseren Köpfen kriegen. Was das mit uns macht, und in wieweit wir uns in unserem künftigen Tun von Ängsten bestimmen lassen, davon wird in Zukunft sehr viel zu reden sein.

Das Problem reicht noch tiefer: Es geht ja nicht nur um die Frage, ob wir uns wieder trauen, gemeinschaftlich zu singen, sondern um unser persönliches Verhältnis zum Atem: Atmen wir neuerdings anders? Können wir noch frei atmen?

Durch den Atem verbinden wir uns mit der Atmosphäre, die wir teilen, und durch sie mit allen atmenden Lebewesen. Das freie Ein- und Ausatmen ist also nichts weniger als der Angelpunkt unseres Weltverhältnisses. Ist dieses angstbesetzt, können wir nicht frei atmen.

Um unser Verhältnis zum Atmen und Singen, allein und in Gemeinschaft, wiederherzustellen, ist es nötig, sich dieser Problematik zu stellen. Und dafür gibt es kaum eine bessere Methode als das Singen im Chor. Es gibt zahllose Übungen (und weitere können noch entwickelt werden), die speziell darauf hinzielen, das gemeinschaftliche Atmen zu praktizieren, den Brustkorb (und die Seele) zu weiten, Ängste abzubauen (etwa, indem man die Abstände behutsam verringert) und sich wieder entspannen zu lernen.

Begrüßungen

Ein weiterer Bereich, der etwas Übung verdient, ist die Begrüßung. Hier habe ich das dringende Bedürfnis, ein paar Trends rückabzuwickeln, die sich während der Pandemiezeit herausgebildet haben. Ich möchte fortan nicht mehr, dass man mir Fäuste oder Ellenbogen zur Begrüßung entgegenstreckt. Beides empfinde ich als Sinnbild gesellschaftlicher Mechanismen, die von Konkurrenz, Rücksichtslosigkeit und Kälte geprägt sind. Es ist nicht zu leugnen, dass durch die Pandemie Ungleichheiten verschärft wurden, viele Menschen in Armut gedrängt wurden und gegenüber Andersmeinenden eine ungekannte Ausgrenzungswut gezeigt wurde. Ich möchte nicht in einer Ellenbogengesellschaft leben, bzw. in einem Land, in dem das Faustrecht herrscht.

In 2022 möchte ich gern den klassischen Händedruck wieder einführen. Vielleicht müssen wir das zuerst ein wenig üben. Es fühlt sich wirklich gut an, ist ein Zeichen von Respekt, Vertrauen und Wertschätzung, und bei mittelprächtiger Handhygiene (die durchaus zu empfehlen ist) muss man keine Angst haben. Genauso verhält es sich mit Umarmungen. Körperliche Nähe tut gut, es werden Glückshormone ausgeschüttet, und wer weiß: vielleicht fällt das Atmen leichter, wenn man sich dabei in den Armen liegt.

Umarmungen, Feiern und Festivals

Vielleicht mag es überraschen, aber mir kommt der Vorschlag aus Dänemark heilsam vor, gleich wie eine Kur: Wir setzen uns den Situationen aus, die wir in den vergangenen zwei Jahren gemieden haben, um uns wieder an sie zu gewöhnen. Wir werden feststellen, dass wir etwas vermisst haben, was uns tief vertraut ist. Und dass wir uns ganz wohl dabei fühlen.

Vielleicht ist es einfacher, wieder ins Gespräch zu kommen, wenn dies in einer entspannten, fröhlichen Atmosphäre stattfindet. Vielleicht brauchen wir jetzt einfach sehr viele Festivals, um den Kreativstau abzubauen und genau solche Atmosphären zu schaffen, die der Heilung dienen. Vielleicht ist die Spaltung dann schon überwunden, und sie muss gar nicht mehr problematisiert werden. Vielleicht stellen wir dann fest, dass unsere Gemeinsamkeiten letztlich größer sind als unsere Meinungsverschiedenheiten.

Und in diesem Sinne sind Feiern und Festivals nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg dahin.

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