Ich bin Musiker und kein Philosoph, habe nur begrenzte Kenntnis von Geschichte, Theologie, Psychologie etc. und halte es mit Sokrates, von dem der Ausspruch stammt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“. Gleichwohl entbindet uns das gepflegte Nichtwissen nicht von unserer gesellschaftlichen Verantwortung.

Wie Robert Schumann einst bekannte, dass ihn „alles affiziert“, was in der Welt vor sich geht, nehme ich für mich in Anspruch, als Mitglied der Menschheitsfamilie und demzufolge Mitbetroffener ihrer Entwicklung, mich zu ihrem Schicksal äußern zu dürfen.

Es sind globale Vorgänge, die mir zu denken aufgeben und mich gleichzeitig hoffnungsvoll und besorgt stimmen. Offenbar befinden wir uns an einem Scheideweg. Wenn dies zutrifft, bedeutet es, dass wir uns entscheiden müssen, welchem Weg wir künftig folgen wollen. Welche Wege uns dabei offenstehen, darüber möchte ich im Folgenden nachdenken.

Im Zuge der die öffentlichen Diskurse beherrschenden „Corona-Pandemie“ nehme ich eine Vielzahl gesellschaftlicher Tendenzen wahr, die mir nicht gefallen, weil ich sie als rückschrittlich erlebe. Aus einer integralen / evolutionären Perspektive betrachtet, wirken zahlreiche Äußerungen von Politikern, Medienvertretern und MitbürgerInnen auf mich regressiv. Dies ist kein Wunder, denn ihre Diskurse sind von Angst geprägt. Und Angst führt notwendig in die Regression.

1) Regression auf den Überlebenstrieb

Wenn Menschen plötzlich um ihr Überleben fürchten, weil die vorherrschenden Narrative tiefste Urängste in ihnen wecken – etwa die Möglichkeit, aufgrund einer Lungenerkrankung zu ersticken oder von der Lebensmittelversorgung abgeschnitten zu sein -, werden sie auf die niederste Stufe ihrer persönlichen Entwicklung zurückgeworfen: den Überlebenstrieb.

Menschen, die derart von Angst ergriffen sind, tätigen Hamsterkäufe und zeigen sich im mitmenschlichen Umgang rücksichtslos – aus purer Angst heraus können sie nur noch an sich selbst denken. Ob diese Angst begründet ist oder nicht, ob sie eine natürliche Reaktion darstellt oder eine Folge von Manipulation ist, spielt für die Betroffenen keine Rolle.

2) Regression auf magisches Denken

Wenn Menschen sich dazu getrieben fühlen, ihre Mitbürger zu verfluchen und ihnen „die Pest an den Hals“ zu wünschen (oder wahlweise eine aktuelle Viruserkrankung), weil diese Vorbehalte gegen einige Maßnahmen haben und die Ängste jener nicht vollumfänglich teilen, dann tun sie dies aus einem magischen Denken heraus: sie sprechen Flüche und Verwünschungen aus, weil sie ihren nicht konformistisch handelnden Mitmenschen unterstellen, sie handelten bloß egoistisch, mindestens aber verantwortungslos.

Leider sind solche Töne auch in den Äußerungen von Politikern und Medienkommentatoren nicht selten zu hören.

3) Regression auf den Wunsch nach Helden und Heilsbringern

Wenn Menschen sich einen „starken Führer“ wünschen oder, weniger verfänglich, einen Politiker, der „durchgreift“; oder „Heilsbringer“ aus der Wissenschaft – etwa der Pharmaindustrie – , dann bilden sich Heldenlegenden. Solche Narrative gehören zu den frühen Entwicklungsstufen von Individuen und Gemeinschaften – auf unsere Gesellschaft bezogen müssen sie ebenfalls auf einer Regression beruhen.

Wir leben inzwischen in einer Demokratie, die den mündigen Bürger voraussetzt, doch dieser scheint seine Verantwortung immer mehr an eine Exekutivmacht abzugeben, auf die er seine Hoffnungen projizieren kann. Dabei sollten wir die Zeiten, in denen wir Führerkulte hatten, eigentlich weit hinter uns gelassen haben.

4) Regression auf Law and Order

Wenn Menschen auf Gesetz und Verordnungen pochen und „schärfere Strafen“ fordern; wenn der Staat immer mehr zum Überwachungs- und Polizeistaat wird; wenn Grenzen geschlossen werden – obwohl wir mal der Meinung waren, dass ein Europa der offenen Grenzen und der Freizügigkeit für eine hohe Entwicklungsstufe steht – dann muss auch hier eine Regression unseres Gemeinwesens stattgefunden haben.

Die offene Gesellschaft, die wir sind, und auf die wir stolz sein können, ist scheinbar in der Krise nicht gefragt. Wir ziehen uns von einem noch fragilen weltzentrischen auf ein ethnozentrisches Bewusstsein zurück. Es herrscht Lagerdenken, Ausgrenzung von Menschen mit anderer Meinung („Corona-Leugner“), was sich besonders dramatisch an der Diffamierung und Entmenschlichung von Impf-Unwilligen zeigt, denen man mit zunehmend harten Verordnungen das Leben schwer zu machen versucht.

5) Regression auf wissenschaftlichen Materialismus und Technokratie

Wenn Menschen einzig und allein „der Wissenschaft“ folgen, dann ist dies Ausdruck einer Überbewertung des rationalen Bewusstseins. Gewiss hat das Rationale seit der Aufklärung zu einer großartigen Entwicklung des menschlichen Geistes geführt, aber gleichzeitig war das Wissenschaftliche (in seiner rein materialistischen Ausprägung) auch für immer tödlichere Waffen verantwortlich.

Daher muss das Rationale in eine höhere Ganzheit integriert werden. Wo dies nicht geschieht, wird es gefährlich. Dann bekommen wir die Atombombe in den Händen von Nationalisten: eine hochrangige technische Entwicklung auf der rationalen Bewusstseinsstufe, bei gleichzeitiger moralischer Unterentwicklung derer, die sie vorantreiben.

Hier sind wir an einem neuralgischen Punkt angelangt. Denn mir scheint es heute eher die Regel als die Ausnahme zu sein, dass Menschen mit einer phänomenalen Begabung für Technologie und nahezu unbegrenzter finanzieller und medialer Macht unser globales Handeln maßgeblich beeinflussen: Menschen wie Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, Bill Gates, Elon Musk und Peter Thiel.

Man vergleiche ihre unstrittig bemerkenswerten Errungenschaften im technologisch-industriellen Bereich mit der Tiefe (bzw. Flachheit) ihrer Äußerungen: es ist nicht schwer festzustellen, dass sie sich oft relativ oberflächlicher Narrative bedienen, die von einem subtilen Reduktionismus geprägt sind. Täglich hören und lesen wir von ihren einseitig technokratischen „Visionen“, die immer wunderbar klingen und gleichzeitig potenziell grenzenlos zerstörerisch sind.

Dazu ist anzumerken, dass das „Disruptive“, die „kreative Zerstörung“ nicht ein unabsichtliches Nebenprodukt ihres Übereifers, sondern vielmehr die vorherrschende Ideologie des Silicon Valley darstellt: „move fast and break things“ (Zuckerberg). Was einerseits cool und modern daherkommt, und weltweit Milliarden Menschen begeistert, schafft auf der anderen Seite unermessliches Leid.

6) Auch das Grüne / Pluralistische Denken befindet sich in der Regression

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert sich eine weitere Bewusstseinsstufe, die man „pluralistisch“ oder „grün“ nennen kann. In ihr manifestiert sich ein starkes Empfinden für die Mitwelt, für Minderheiten – sie versucht, allem und jedem seinen Platz im Kosmos zuzubilligen.

Man sollte also denken, dass in einer pluralistischen Gesellschaft jedem eine eigene Meinung und eine individuelle Lebensweise zugestanden wird. Die „Pandemie“-Bekämpfung hat jedoch gezeigt, dass dem nicht so ist. Von Anfang an wurden Meinungen, die von der Regierungslinie abwichen, diffamiert und ausgegrenzt. Mittlerweile wird sogar die ganze Bevölkerung dazu herangezogen, die von der Regierung beschlossenen Ausgrenzungsmechanismen (2G-Regel) aktiv umzusetzen.

Merkwürdigerweise hört man gerade aus den Reihen der Grünen (und Linken), bei denen das pluralistische Denken am stärksten verankert ist, die schärfsten Aufrufe zur Ausgrenzung der Maßnahmenkritiker (oder gar der „Ungeimpften“). Das könnte man konsequent nennen, denn wer sich die Rettung der Erde zum Ziel gesetzt hat – und darunter geht es heute nicht mehr -, muss Opfer bringen. Auch Opfer fordern, wenn es nötig ist? Je mehr sich die Lage vermeintlich zuspitzt, desto mehr scheint jedes Mittel recht.

Ich sehe darin ganz und gar nichts Konsequentes, sondern vielmehr eine weitere Regression: Die Grünen, die mal pluralistisch waren, fallen zurück in eine Wissenschaftsgläubigkeit der rationalen Stufe, um dann (noch schlimmer!) damit eine Law-and-Order-Politik zu betreiben, die totalitäre Züge aufweist. (Die vielfach gehörte Zuschreibung als „Verbotspartei“ ist dabei nur eine populistische Vereinfachung, die den Kern der Sache unberührt lässt.)

Dabei hat gerade eine pluralistische Weltsicht das größte Potenzial, die für unser Überleben so wichtige Integrale oder Evolutionäre Weltsicht zu erreichen. Und hier genau befindet sich der Scheideweg.

Der Scheideweg: Bewusstseinswandel oder Technokratie

Wir leben an einem historischen Wendepunkt, an dem wir erkennen müssen, dass keine der genannten Bewusstseinsstufen mehr dazu geeignet ist, die gegenwärtigen Krisen zu lösen: weder das „höhere Wesen“, noch der „starke Mann“, weder der „starke Staat“, noch die Technokratie. Letztere ist sogar höchst gefährlich, weil potenziell im globalen Ausmaß zerstörerisch – solange das Rationale nicht in ein höheres Bewusstsein, eine umfassendere Weltsicht integriert ist.

Es könnte sein, dass Technokraten die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch Mensch-Maschine-Schnittstellen für eine Erweiterung des Bewusstseins und damit ein evolutionäres Ziel der Menschheit halten. Dies könnte sich als ein fataler Irrtum erweisen: Denn erweiterte menschliche Fähigkeiten, bei nicht im gleichen Maße erweitertem Bewusstsein, haben schon im Atombombenzeitalter zu Katastrophen geführt. Auch das pluralistische, „grüne“ Denken kann hier keine Lösung sein, da es dem Irrtum unterliegt, alle Sichtweisen seien gleich gut und gleich berechtigt – auch die lebensfeindlichen.

7) Der einzige Ausweg: integrales / evolutionäres Bewusstsein

Daher können wir, wenn wir den Schritt zurück in die Regression nicht gehen wollen, nur den Weg nach vorn wählen: in die Integration aller bisherigen Bewusstseinsstufen, in das Bewusstsein des „zweiten Ranges“ (Ken Wilber), die integrale oder evolutionäre Weltsicht.

Von hier aus wäre eine neue Ethik zu formulieren, die ein Zusammenleben der Menschen in friedlicher Koexistenz mit ihrer Mitwelt ermöglicht. In dieser Ethik wird selbstverständlich das Beste eingeschlossen sein, was die Menschheit im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte hervorgebracht hat: christliche Nächstenliebe, humanistisch-aufklärerisches Denken, universelle Menschenrechte – und wohinter wir unter keinen Umständen, in keiner Notlage jemals wieder zurückfallen sollten.

(Derzeit müssen wir jedoch sehen, dass diese Errungenschaften des menschlichen Geistes im Zuge der gegenwärtigen Krisen unter Druck geraten und allzu leichtfertig preisgegeben werden. Dies darf nicht geschehen.)

8) Weitere transpersonale Bewusstseinsstufen

Auch die integrale Weltsicht ist noch nicht das Ende der Bewusstseinsspirale: Ken Wilber spricht auf der Ebene des „Zweiten Ranges“ neben der integralen von weiteren, transpersonalen Bewusstseinsstufen: subtil, kausal und nondual. In diesen Bereichen sind mystische Erfahrungen von Einssein mit Natur, Gottheit und der formlosen Leere angesiedelt. Hier löst sich alles auf, was wir in unserem Dasein als Trennung und Spaltung erfahren.

Um Spaltung überwinden zu können, die für so viel Leid in der Welt ursächlich ist, ist es nötig, ein Bewusstsein von Einssein, Einigkeit und Ganzheit zu entwickeln. Dann ist Heilung möglich, und diese zu erreichen eigentlich nicht schwierig, da bereits alles vorhanden ist und nur noch gefestigt und in unseren gesellschaftlichen Strukturen verankert werden muss. Dies scheint mir allerdings die dringendste Aufgabe unserer Zeit zu sein.

Eine der erbaulichsten Botschaften aus Ken Wilbers Werk ist für mich die Einsicht, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt Zugang zu jeder Bewusstseinsstufe hat – auch den höchsten. Jedes Ereignis kann eine Gipfelerfahrung sein. Oft sind es ganz unscheinbare, flüchtige Momente: ein gutes Gespräch, ein Sonnenstrahl, ein kurzer Geistesblitz. Ein Gefühl des Einsseins mit der Natur, eine Begegnung mit Engeln, ein kurzes Erleben im Christus-Bewusstsein.

Entscheidend ist, was danach kommt: Ob wir uns in unserem Alltag an diesen Gipfelerfahrungen orientieren, sie zum Maßstab unseres Handelns machen – oder ob wir weiterhin unserer Angst das Feld überlassen.

Eine neue Bewusstseinsklasse?

In seinem bemerkenswerten Buch „Die belagerte Welt“ schließt der Politikwissenschaftler Kees van der Pijl mit der Hoffnung, es könnte sich eine neue „Bewusstseinsklasse“ etablieren, die im heraufziehenden Informationszeitalter einzig in der Lage wäre, der neuen (biopolitischen) Herrscherklasse die Stirn zu bieten und ihr möglicherweise sogar überlegen zu sein – einzig und allein auf der Ebene des Bewusstseins.

„Wer wird die Klasse des Bewusstseins sein, die die Führung übernimmt, um die Gesellschaft aus der kommenden Depression herauszuführen?“

Die gegenwärtigen Krisen haben uns an diesen Scheideweg geführt. Nun liegt es an uns, zu wählen, wohin wir gehen wollen.

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