Nach fast einem Jahr, seit wir begonnen haben, Soziale Distanz in unsere Lebenspraxis zu integrieren, frage ich mich, wie viel von unserem Alltag sich seither ins digitale Netz verlagert hat. Wie viel von unserer Lebenszeit verbringen wir in virtuellen Räumen? Begegnen wir dort inzwischen mehr Menschen als in der realen Welt?

Mit dem Beginn des Pandemischen Zeitalters hat sich aufgrund ganz neuartiger Verordnungen (Kontaktverbot) und den daraus folgenden pragmatischen Erwägungen (Homeoffice etc.) ein Großteil unserer musikalischen Aktivitäten ins Internet verlagert. Auch gemeinsames Musizieren wurde – in Ermangelung von legalen Alternativen – online versucht. Allerdings mit mäßigem Erfolg.

In Berichten und Gesprächen las und hörte ich immer wieder von Zoom-“Chorproben“, die keine waren, weil niemand den anderen hörte. Wenn man überhaupt etwas hören, was als Musik erlebt werden konnte, mussten alle außer dem Chorleiter ihre Mikros stummschalten. Manche Dirigenten versuchten sogar, dem Elend von Rauschen, Rückkopplung und Verbindungsproblemen von vornherein zu entgehen, indem sie einfach Aufnahmen hochluden, zu denen mitgesungen werden konnte (und zwar Einspielungen von richtig guten, professionellen Chören!)…

Dass gemeinschaftliches Chorsingen in der virtuellen Welt nicht so richtig funktioniert, hat technische Gründe: Wird ein Klang durch das weltweite Netz geschickt, gelangt das akustische Signal auch bei schnellster Breitbandverbindung immer mit Zeitverzögerung ans Ziel – die so genannte Latenz. Auch bei schnellster Servergeschwindigkeit entsteht beim gemeinsamen Musizieren eine hör- und spürbare Verschiebung, die rhythmisches Zusammenspiel – zumal im schnellen Tempo (oder gar im 16tel-Groove!) – ganz und gar unmöglich macht.

Nun gibt es aber nicht nur beim praktischen Musizieren unerwünschte Verzögerungen, sondern auch bei der Überweisung der Hilfszahlungen, die selbständigen Künstlern – darunter vielen Chorleitern – zugute kommen sollten, um den mehrmonatigen Lockdown und den damit verbundenen Verdienstausfall zu überstehen. Hier betrug die Verzögerung allerdings nicht einige Millisekunden (was in der Musik als einer an die Zeit gebundene Kunstform bereits erheblich ist), sondern die Gelder ließen Monate auf sich warten … falls sie denn überhaupt eintrafen.

Solche Verzögerungen haben gerade bei Kulturschaffenden, die ihren Beruf eher aus idealistischen Gründen leben und sich nicht nur am Markt (und damit am Massengeschmack) orientieren, existenzgefährdende Wirkung. Dies wiederum hat Folgen für die Kultur als Ganzes, denn: Müssen gerade diejenigen aufgeben, die sich für anspruchsvolle oder selten gespielte Werke oder experimentelle Formate engagieren, wird dies langfristig tatsächlich zu dem führen, was von Seiten der Politik im Sommer angedeutet wurde – dass Kultur in der Bereich der Unterhaltung gehört.

Versucht man nun, die verantwortlichen Politiker oder ihre vorgeschalteten Ansprechpartner in solchen Fragen zu erreichen – ob telefonisch, postalisch oder per Petition – bekommt man es mit einer weiteren Form von Latenz zu tun: die Antwort läßt oft sehr lange auf sich warten – falls sie überhaupt erfolgt.

Jeder, der schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass ein Vorgesetzter ihn warten ließ (oder man vielleicht sogar selber in der entsprechenden Position war, andere warten lassen zu können), weiß, dass solche Zeitverzögerungen ein Herrschaftsinstrument sind, das dem Gegenüber deutlich machen soll, wer am längeren Hebel sitzt. Ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht, mag dahin gestellt sein – jedenfalls wurde uns im Jahr 2020 deutlich gezeigt, dass der Stellenwert der Kultur im Handumdrehen sinken kann.

Vielleicht war es auch nicht ganz fair, Kulturelles Leben in eine Konkurrenz mit dem gesundheitlichen Überleben zu stellen. Ob das eine wirklich das andere ausschließen muss, wird hoffentlich bald hinterfragt und neu bewertet.

Nun aber verzögert sich die ersehnte Öffnung des Kulturlebens Monat um Monat, den der Kultur-Lockdown verlängert wird. Man fühlt sich fast an den Herrn Godot erinnert, auf den alle warten, dessen Ankunft sich aber immer weiter verschiebt – in die Unendlichkeit.

Musikalisch gesprochen: Fermaten können zwar theoretisch unendlich lang sein, aber ihre Dauern folgen einer innermusikalischen Logik. Sie sind Träger einer Spannung, die durch das Vorangegangene aufgebaut wurde. Wird diese Spannung jedoch überdehnt, verliert sie ihre Wirkung (und die Zuhörer vielleicht die Nerven). Zudem gibt es natürliche Grenzen: ein Sänger kann einen Fermatenton nur so lange halten, wie sein Atem reicht.

Nicht wenigen KünstlerInnen geht gerade die Puste aus. Wie viel Latenz verträgt unsere Kultur? Und: Auf wen warten wir?

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