Wir müssen reden. Und Ruhe bewahren.

Am 14.1.21 wurde der Vorgänger dieses Textes auf Facebook geteilt. Die Empörungsmaschine kam sofort in Schwung, und binnen weniger Stunden hagelte es teils ziemlich heftige Kommentare. Was war geschehen?

Ich hatte versucht, unter ChorleiterkollegInnen eine Debatte anzustoßen, auf welche Art und Weise Chorsingen unter Lockdown-Bedingungen möglich ist. Mein Ausgangspunkt war ein Rückblick auf das vergangene Jahr: nach einem kurzen und heftigen Schock im Frühjahr, schnellen und hilflosen Maßnahmen, einer kurzen Episode der Hoffnung und jeder Menge Kreativität, ist das Kultur- und Vereinsleben in einem Fortsetzungs-Lockdown gefangen.

Mich beunruhigt weniger die Tatsache, dass aus Sicherheitsgründen das Chorsingen, wie wir es kannten, für einen derzeit unbestimmten Zeitraum nicht stattfinden kann. Eher beunruhigt mich die große Sprachlosigkeit, die sich darüber breitgemacht hat. Doch genau wegen dieser müssen wir reden. Reden: nicht nur darüber, wie wir als Kulturschaffende die Gegenwart im Lockdown, sondern auch die Zukunft darüber hinaus gestalten können.

Bevor ich eine Skala von Möglichkeiten vorstelle, die mir zu diesem Thema in den Sinn kommen, möchte ich drei Vorbemerkungen machen:

1) Lasst uns auf die Wissenschaft hören: Das Institut für Musikermedizin der Musikhochschule Freiburg hat im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder fundierte Risikoeinschätzungen und Vorschläge für Hygienekonzepte veröffentlicht, die zeigen, unter welchen Bedingungen Chorsingen gefahrlos möglich ist. Diese Erkenntnisse besitzen nach wie vor Gültigkeit – ob wir uns nun im Lockdown befinden oder nicht.

2) Lassen wir uns nicht von Medienberichten verunsichern: Das öffentliche Narrativ wendet sich seit März 2020 eindeutig gegen den Chorgesang. Hieß es bis dahin stets, wie gesund Singen doch für Körper, Seele und Geist sei, wird seither vorrangig über Chöre als Superspreader berichtet. Hier verschieben sich gerade alle Grundlinien gesellschaftlicher Vernunft, und es wird eine unnötige Panik erzeugt, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu wissenschaftlichen Tatsachen (siehe 1) steht.

3) Querdenken habe ich immer für eine intellektuelle Fähigkeit gehalten. Seit dieser Begriff auf die bekannte diffuse Bewegung von Kritikern der Verordnungen und Maßnahmen angewandt wird, distanziere ich mich ausdrücklich – und zwar sowohl von der so genannten Bewegung als auch von jeglicher pauschalen Verurteilung all jener, die Dinge kritisch hinterfragen. Es wäre schön, wenn wir die nötige Ruhe aufbringen, alle Argumente zu hören und zu prüfen. Denn wenn wir das nicht tun und uns einfach nur von allem möglichen distanzieren, steht bald jeder alleine da.

Nun folgt die Skala von Möglichkeiten, die ich als Diskussionsgrundlage für Vorstände, Chorleiter und Vereinsmitglieder anbieten möchte:

A. Abwarten und Nichtstun

B. Chorproben nein, Vereinsleben ja (z.B. über Mailverteiler oder telefonischen Kontakt)

C. Chorproben nur digital

D. Hybride Chorarbeit (= Mischformen aus Digitalität und Präsenz)

E. Präsenz-Chorproben (Gruppengröße ja nach geltender Verordnung und Hygienekonzept)

F. Einzel-Stimmbildung

G. Kirchenasyl (Singen im Gottesdienst – z.B. nach den geltenden Regeln des Erzbistums)

H. „Illegale“ Chorproben (Treffen zum Singen als Privatpersonen und auf eigenes Risiko)

I. Chorproben als Kundgebungen (Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz sind nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht pauschal verboten)

J. Politischer Widerstand (z.B. Lobbyarbeit für das Chorwesen, über Verbände Einfluss auf die politische Bewertung der Pandemie nehmen)

Es ist eigentlich unnötig zu erwähnen, dass die Vorschläge A-B und H-J Extrempositionen darstellen. Ich vermute und befürchte jedoch, dass sich die meisten Chöre derzeit in der unteren Extremposition befinden. Dass der oben dargestellten Skala nun der Vorwurf gemacht wird, man würde „Schlupflöcher suchen“ und damit in Kauf nehmen, dass „Menschen sterben und Chöre daran Schuld seien“ (so einige Kommentatoren), zeigt ja nur, wie sehr sich der Rahmen bereits verschoben hat.

Zu den Extrempositionen A-B: Hier wird eine Güterabwägung getroffen: Infektionsschutz gegen gesellschaftliches Leben. Allerdings wird diese in so gut wie allen mir bekannten Fällen pauschal getroffen, d.h. der gesamte Chor stellt seine musikalische Tätigkeit ein (auch wenn Einzelne vielleicht gern singen würden). Das ist legitim. Es könnte jedoch passieren, dass wir nach dem Ende des Lockdowns mal durchzählen, und feststellen, dass noch alle am Leben sind, aber es einige Chöre nicht mehr gibt.

Zu den Extrempositionen H-J: Ich rechne persönlich nicht damit, dass sich aufgrund eines Textes plötzlich alle Chöre des Deutschen Chorverbands zum Umsturz versammeln. Allerdings – wenn sich die Lage tatsächlich so entwickeln sollte, dass unser politisches System immer mehr diktatorische Züge entwickelt (was ich nicht hoffe), dass würde ich mir als Bürger Deutschlands mit Geschichtskenntnissen wünschen, dass die Zivilgesellschaft dies nicht einfach geschehen lässt.

Ich möchte mich hier deutlich für eine kluge Kombination aus den mittleren Vorschlägen aussprechen, die möglichst vielen SängerInnen gerecht wird. Manche bleiben lieber daheim und versuchen sich vielleicht an digitalen Lösungen, andere singen gern in kleinen Gruppen oder nehmen Gesangsunterricht. Man kann sich gegenseitig (auf Abstand) besuchen und Ständchen singen, und auch das Singen in Gottesdiensten in kleinen Gruppen ist weder verboten noch gefährlich. So lassen sich die genannten Möglichkeiten miteinander kombinieren und jeder Chor kann sein eigenes Modell entwickeln. Und darüber müssen wir reden: gerade in Krisenzeiten müssen Vereine lebendig bleiben, denn sie sind das Rückgrat unserer Zivilgesellschaft.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat aus einer Anweisung im „Verhalten bei Brandfällen“, die ich im Frühjahr 2020 bei einem Auftritt in der Graf-Zeppelin-Halle Friedrichshafen las – die Pandemie hatte ganz frisch begonnen, und niemand wusste, was zu tun war. Und so war ich sehr beeindruckt, als ich dort lesen konnte:

„Ruhe bewahren – die größte Gefahr ist eine Panik.“

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