Nun leben wir bereits drei Monate unter den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, und es scheinen sich Muster zu stabilisieren, unter denen wir vermutlich noch viele weitere Monate zu leben haben. Chorsingen wird neben vielen anderen gemeinschaftlichen Tätigkeiten nur unter strengen Hygieneauflagen – und unter Abstand – möglich sein.

Der dafür gebräuchliche Begriff social distancing erscheint mir dabei immer unglücklicher, je mehr ich über ihn nachdenke. Schließlich geht es ja dabei nicht um gesellschaftliche Distanzierung (oder gar Ausgrenzung – etwa von Risikogruppen?), sondern um rein körperliches Abstandhalten. Dass das eine mit dem anderen jedoch eine starke Beziehung eingehen kann, ist aus der Soziologie seit Georg Simmel bekannt.

Für musizierende Gemeinschaften muss reines Abstandhalten kein Problem sein. Problematisch wird es erst dann, wenn durch die Distanzierungsmaßnahmen der soziale Zusammenhalt auf Eis gelegt wird: Man trifft sich nicht mehr, man hört nichts mehr voneinander … irgendwann hört die Gemeinschaft auf zu existieren – wenn wir nicht gegensteuern.

Speziell für Chöre wird die Herausforderung der Zukunft darin liegen, das Abstandhalten zu lernen und gleichzeitig als Gemeinschaft noch enger zusammenzurücken. Wie das konstruktiv zu lösen ist, darüber soll hier nachgedacht werden.

Nach wie vor glaube ich daran, dass Vereine das Rückgrat unserer Gesellschaft sind. Gerade Chöre erweisen sich in schwierigen Situationen oftmals als besonders resiliente, krisenfeste lokale Gemeinschaften. Aber können sie das auch in diesem speziellen Fall, wenn man sich gar nicht in normaler Weise begegnen darf? Ja – mit großer Sicherheit. Wir müssen nur neue Modi des Zusammenseins probieren.

Proben und Probieren, Experimentieren und Improvisieren – unsere Versuche, das Abstandhalten in unsere normale Chorarbeit zu integrieren, führen uns in eine neue und unbekannte Musizierpraxis, die erkundet, was alles möglich ist: Singen im Garten, im Wintergarten, in der Laube, der halb offenen oder geschlossenen Scheune, in Industriehallen usw. Am beliebtesten sind ganz klar die Open-Air-Orte, natürlich wegen der guten Luftzirkulation. Bei schlechtem Wetter werden die halb offenen Gebäude bevorzugt.

Unsere Auftritte werden in Zukunft vor allem in Open Air stattfinden, was akustisch natürlich weniger vorteilhaft ist. Vielleicht müssen unsere Chöre in Akustikwände (Chormuschel) und Übertragungs- und Beschallungstechnik investieren. Dafür wären sie dann mobiler und unabhängiger.

Und wenn schon die Scheune der Proben- und Konzertsaal der Zukunft ist – warum nicht gleich noch eine Kooperation mit lokalen Bio-Erzeugern eingehen? Dann wäre auch für die Verpflegung gesorgt, und zwar auf nachhaltige Art und Weise. Würden alle Chormitglieder dann noch mit dem Fahrrad anreisen, wären wir nebenbei auch noch Vorbilder in Sachen Mobilität.

Was wird die Zukunft noch bringen? Chöre werden sich darauf einstellen müssen, in den unterschiedlichsten Kleinstbesetzungen zu agieren, welche flexibel auf vorhandene Raumgrößen abgestimmt werden. Ein Beispiel: Auftritte in der Kirche sind derzeit mit 6 Personen möglich, das ergäbe z.B. einen gemischten Chor mit doppelt besetzen Männerstimmen, welche wiederum als Männerquartett singen können…

Für solistische Besetzungen braucht man natürlich Zweitbesetzungen. Daher sollte jede/r Chorsänger/in darauf vorbereitet werden, auch im Soloquartett singen zu können. Langfristig würde das jede einzelne Stimme stärken und im Chor als Ganzem einen enormen Qualitätsschub bewirken.

Wir werden in Zukunft raumgreifender singen. Wenn man nicht direkt jemanden neben sich sitzen hat, muss man, auf sich allein gestellt, kräftiger singen. Es kann gut sein, dass bei manchen, die sich bisher an ihre Nachbarn gehalten haben, die Stimmen aufgehen.

Zudem werden wir lernen, den Raum stärker wahrzunehmen: als klingender Zwischenraum, als Raumklang. Das räumliche Hören wird sich entwickeln. Wir werden lauter singen und gleichzeitig feiner hören. Es kann sein, dass unsere Chöre kleiner werden, aber größer klingen, dazu plastischer und homogener.

Wir werden mutiger und experimentierfreudiger werden, unsere Chöre werden noch individueller in Erscheinung treten: aus den Versuchen, mit dieser Situation umzugehen, können ganz neue Chorprofile entstehen.

Alles, wovon ein experimentierfreudiger Chorleiter bisher nur träumen konnte, wird jetzt möglich, weil notwendig: Singen an ungewöhnlichen Orten, in verschiedenen Besetzungen, mit neuen Raum- und Raumklangerfahrungen, in kreativen Mischformaten (live und elektronisch), etc.

Dies alles sorgt natürlich anfangs erstmal für sehr viel Mehraufwand: für Vorstände, Notenwarte und vor allem die ChorleiterInnen. Doch dabei entstehen kreative Lernprozesse, die schon bald in neue Routinen münden werden. Es wäre allerdings wünschenswert, dass sich Chorleiter-KollegInnen kontinuierlich über ihre Erkenntnisse austauschen und gegenseitig unterstützen, damit nicht jeder immer wieder von vorn beginnen muss.

Natürlich sind jetzt Komponisten und Arrangeure besonders gefragt, eine neue, krisenfeste Musik zu schreiben: eine schlanke, raumgreifende, effektvolle Musik mit erbaulichem (tröstlichem) Inhalt.

Wenn ich mir all diese neuen Chancen vor Augen halte, möchte ich fast sagen: Chorsingen ist eine ideale Methode, unter räumlicher Distanzierung Gemeinschaft zu proben, die harmoniert.

Und das Publikum? Vielleicht gibt es das irgendwann überhaupt nicht mehr, weil alle zu MitsängerInnen geworden sind.

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