Wer hätte das gedacht? Nach einer Phase des Wiederauflebens, voller Kreativität und Hoffnung, befindet sich die deutsche Chorlandschaft seit Anfang November im Lockdown: Gemeinschaftliches Singen ist verboten, private Treffen auf zwei Haushalte beschränkt. Einzig die Kirchen machen es möglich, dass im Rahmen von Gottesdiensten bis zu 8 Personen gleichzeitig auf Abstand singen oder spielen dürfen. Wer also möchte, und einen verständnisvollen Pfarrer kennt, mache Gebrauch von diesem Kirchenasyl für die Kultur.
Das gab es noch nie. Bei einem Vortrag des Musikwissenschaftlers Prof. Christoph Henzel lernte ich, dass es in Deutschland weder in Zeiten von Pest und Cholera, die ungleich mehr Todesopfer forderten, einen Kulturlockdown gab. Hatten die damals Regierenden mehr Sinn für Kultur? Oder scheuten sie einen Aufstand (weil die Bürger damals mehr Sinn für Kultur hatten)? Einzig in den letzten Kriegsjahren kam es zum Stillstand des Kulturlebens, weil der damalige Präsident der Reichskulturkammer Joseph G. Zugleich Reichsminister für „Volksaufklärung und Propaganda“ war und der Meinung war, die Kulturschaffenden sollten sich lieber an der Mobilmachung beteiligen.
Man muss hier keine Parallelen ziehen, aber bei erneuter Durchsicht von allerlei Pressemeldungen, die ich ab Jahresbeginn gesammelt hatte, fiel mir ins Auge, wie sich ein Narrativ ins Gegenteil verkehrte: Bis März 2020 hieß es aus der Wissenschaft einstimmig: „Singen ist gesund!“. Seit März 2020 müssen wir lesen, dass „Singen tötet“ (NZZ), und dass vor allem Chöre „Superspreader“ sind (BZ). Ja, was denn nun?
Der Verfasser bestreitet nicht, dass von Coronaviren eine Gefahr ausgeht, die, wenn sie auf ein geschwächtes Immunsystem trifft, durchaus tödliche Folgen nach sich ziehen kann, aber dass nun ausgerechnet gemeinschaftliches Chorsingen „schuld“ sein soll, dass die Pandemie nicht vorübergehen will, entzieht sich meinem rationalen Denken. Hier wird eine Angst geschürt, die der Sache nicht dient.
Nun zur anderen Seite der Wissenschaft: Das Freiburger Institut für Musikermedizin hat in einer weithin anerkannten Risikoeinschätzung dargelegt, unter welchen Bedingungen Singen und Musizieren stattfinden kann, so dass keine Gefahr besteht. Diese Risikoeinschätzung war über Monate Grundlage für die ausgefeilten Hygienekonzepte, nach denen der Proben- und Aufführungsbetrieb wiederaufgenommen werden konnte. Noch im September belegen die Statistiken des RKI, dass nur ein verschwindend geringer Anteil der Übertragungen im öffentlichen „Freizeitbereich“ (der nicht näher differenziert wird und auch z.B. Karnevalsfeiern aus dem Frühjahr umfasst) stattgefunden haben.
Dies alles spielt seit Mitte Oktober keine Rolle mehr, seit es heißt, die Gesundheitsämter könnten die Kontaktdaten nicht mehr nachverfolgen. Seitdem befindet sich die Kultur im Lockdown, es werden Schweigemärsche veranstaltet und Schweigegelder gezahlt. Und auch die Debatte um Sinn und Unsinn einzelner Maßnahmen, die noch im Sommer lebhaft war, ist verstummt, weil niemand im Verdacht stehen möchte, er (oder sie) sei „unsolidarisch“ angesichts der Opfer der Pandemie oder stünde gar der AfD nahe oder noch schlimmer – der oben erwähnte Reichsminister für „Volksaufklärung“ hätte wohl seine Freude an solchen Narrativen.
Zurück zum Singen: Was mich am meisten stört an den Maßnahmen und Lösungsversuchen, die zu hören sind, ist dass sie offenbar einem technizistischen Weltbild entstammen: Verordnungen, Abstand, Impfstoff – alles technokratischer Natur (Erich Fromm nennt das „nekrophil“ – lebensfeindlich). Damit wird aber Menschsein reduziert auf „Humanmaterial“, Singen zu einem physikalischen Akt, bei dem Tröpfchen und Aerosole „produziert“ werden – und nicht etwa Freude, Gemeinschaft, Seele, Sinn. Solche Begriffe, die das Wesen von Kultur ausmachen, tauchen im Weltbild der Virologen und Technokraten nur ausnahmsweise auf. Kein Wunder, dass Kultur nicht vorkommt in der Neuen Normalität, auf die man uns Woche für Woche einschwört.
Eine Wertedebatte muss geführt werden, und zwar nicht von den so genannten „Experten“ (es gibt ja heute für alles irgendwelche Experten, aber im Zweifelsfall nimmt man dann eben diejenigen, die einem günstig sind), sondern von der in aller Breite betroffenen Bevölkerung. Es geht um nichts weniger als eine Ethik in katastrophischen Zeiten (wie kann man die Würde der Kranken, der Toten und der Lebenden wahren), eine Güterabwägung (welche Risiken nehmen wir in Kauf, um welche Vorteile des Lebens in Anspruch nehmen zu können), und nicht zuletzt um Gerechtigkeitsfragen (ist es gerecht, dass der Mittelstand und die Armen unverhältnismäßig unter den Maßnahmen leiden, während die Superreichen, speziell aus der Digital- und Finanzwelt, immer reicher werden?)
Ich möchte dazu aufrufen, aus der Sprachlosigkeit herauszutreten, denn während wir uns im Lockdown befinden, werden im Hintergrund unhintergehbare Fakten geschaffen.
Dazu gehört auch: Wird künftig nur noch im Chor mitsingen dürfen, wer geimpft ist? (Der israelische Ministerpräsident hat bereits angekündigt, einen „grünen Pass“ auszugeben, und die australische Fluggesellschaft nimmt nur noch Geimpfte an Bord. Und wer denkt, dass könne in Deutschland nicht passieren: die Stimmen, die so etwas fordern, sind bereits zu hören und werden lauter werden…)
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