Es mag auf der Hand liegen, dass Social Distancing und Chorsingen einander weitgehend ausschließen. Wie weitgehend, darüber lohnt es sich allerdings nachzudenken. Denn derzeit vermag niemand mit Gewissheit zu sagen, wann das Chorwesen in seiner uns bekannten und vertrauten Form wieder aufleben kann.

Schon jetzt dürfte klar sein, dass ein ansteckendes Virus, das sich über „Tröpfcheninfektion“ verbreitet, für den gemeinschaftlichen Gesang (und nicht nur dort, wo man sich um deutliche Aussprache bemüht) eine Katastrophe ist.

Selbst wenn irgendwann die Versammlungsverbote wieder aufgehoben und Teilnehmerbeschränkungen nach und nach wieder angehoben werden sollten, wird es noch eine ganze Weile dauern, bis sich die Mitglieder eines Chores wieder zu ihren regelmäßigen Zusammenkünften trauen (vom Publikum ganz zu schweigen). Man hat sich ja inzwischen daran gewöhnt, dass größere Ansammlungen von Menschen irgendwie gefährlich sind.

Ich bin ein nahezu grenzenloser Optimist und glaube gern daran, dass irgendwie, irgendwo, irgendwann alles wieder gut wird. Aber: Wir werden wohl oder übel für eine ganze Zeit Abschied nehmen müssen von jeglichem Singen im größeren Rahmen.

Man kann dies betrauern, man kann aber auch versuchen, neben allerlei spontanen Aufrufen und Online-Aktionen tragfähige und dauerhafte Lösungen für die nähere Zukunft zu finden. Meine Vermutung: dies ist die Stunde der Kammermusik.

Was schon heute geht, ist Quartettsingen (sogar Quintett) im privaten Rahmen, solange man dabei die Abstandsregeln einhält, denn private Versammlungen bis zu 5 Personen sind vom Gesetzgeber erlaubt und stellen unter hygienischen Bedingungen auch keine Gefahr da. Von hier bis zum anderen Extrem – Chorfestival, Massensingen, Oratorium – ist es noch ein weiter Weg, aber es gibt viele Zwischenstufen, die zu betreten sich lohnt.

Übrigens: nach einer schwedischen Studie ist die Klangentwicklung im Chor am besten, wenn alle ChorsängerInnen in ca. 1m Abstand zueinander stehen.

Man muss also nicht völlig auf gemeinschaftliches Singen verzichten, bis die Kontaktverbote gelockert sind – privates Singen in solistischen Kleingruppen (SATB oder TTBB) ist nicht nur möglich, sondern absolut förderlich: Wer so etwas mal selber probiert hat, stellt fest, dass die SängerInnen in intonatorischer, klanglicher und dynamischer Weise maximal gefordert sind und über sich selbst hinaus wachsen. Solistisches Quartettsingen stärkt vor allem solche Choristen, die sich gern in der Masse verstecken. Vielleicht entstehen auf diese Weise sogar neue A cappella-Ensembles. Und: bei einer gesetzlichen Obergrenze von 5 Personen wäre ja sogar noch Platz für einen Pianisten (oder Zuhörer).

Hilfreich könnte in diesen Zeiten eine Umstellung des Repertoires sein: vorläufiger Verzicht auf Werke, die eine große Besetzung erfordern, statt dessen Hinwendung zu schlanken, kammermusikalischen, solistischen Stücken (z.B. Schubert, Comedian Harmonists oder das Repertoire aktueller A Cappella-Gruppen). Es tut auch großen Chören gut, sich in kleinen Formen zu üben.

Dasselbe gilt natürlich für Konzerte: Es könnte etwas dauern, bis man sich wieder traut, Chorfestivals zu veranstalten. Doch bis dahin kann man mit allerlei Kleinkunst die Lücken füllen: Formate vom Wohnzimmerkonzert über Haus- und Hofkonzerte – bei gutem Wetter natürlich bevorzugt im Freien (und Bier aus der Flasche). Hauptsache es ist liebevoll gestaltet und die Tugenden stehen mehr im Vordergrund als die Not. Je begrenzter die Anzahl der gesetzlich erlaubten Teilnehmer ist, desto mehr von solchen Veranstaltungen kann es geben. Hier ist Flexibilität und Kreativität gefragt, mit der man sogar kurzfristig auf Verschärfungen (und Entspannungen) der Gesetzeslage reagieren kann.

Finanziert werden könnte das Ganze von Enthusiasten und Förderern, über Spenden, und nicht zuletzt von den Chören selbst (oder ihren Verbänden). Es könnte ein Verteiler erstellt werden, der Chöre, Ensembles, Kleingruppen und ihre Programme in Kontakt bringt mit Förderern, Sponsoren und Ermöglichern.

Vor allem gilt es, das soziale Netz aufrecht zu erhalten, das jeder Chor unzweifelhaft darstellt. Selbst wenn ein Chor seinen Probenbetrieb eingestellt hat, können die Kommunikationskanäle offen bleiben und für andere Dinge genutzt werden – z.B. für Nachbarschaftshilfe. Meiner Wahrnehmung nach haben Vereine oft hohe soziale Qualitäten, die weit über das musikalische hinausgehen – nicht selten sind sie eine Art Rückgrat für ihre Gemeinde – dies bewahrheitet sich vor allem dann, wenn die Gesellschaft auf lokale Resilienz angewiesen ist.

Wem die probenfreie Zeit zu lang wird und wer sich gern nützlich machen möchte, kann ja das Probenlokal renovieren oder verschönern oder das Notenarchiv auf den neuesten Stand bringen. Nach und nach werden vielleicht wieder Stimmproben möglich, oder es kann eine spezielle Stimmbildung für Interessierte angeboten werden.

Ein Wort noch zur so genannten Risikogruppe: Es ist kein Geheimnis, dass viele Chöre einen überdurchschnittlich hohen Anteil an SängerInnen jenseits des Rentenalters haben. Natürlich muss auf diese Gruppe eine besondere Rücksicht genommen werden. Da der Gesetzgeber aber in seinen Maßnahmen keinen Unterschied zwischen den Altersgruppen macht, ist nicht anzunehmen, dass bei Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln eine besondere Gefahr für die älteren MitsängerInnen besteht. Findet das Singen vorläufig im privaten Rahmen statt, können die SängerInnen – altersunabhängig – selber entscheiden, welches Risiko ihnen angenehmer ist: allein zu sein oder unter Leuten. Und die Vorstände müssen für sie keinerlei Verantwortung tragen.

Natürlich ist in einer Chorgemeinschaft die gegenseitige Verantwortung ganz wichtig: Wer erkrankt (woran auch immer), sollte unter allen Umständen zuhause bleiben. Dort kann sie oder er sich noch mit allerlei Online-Angeboten die Zeit vertreiben, etwa mit dem Hören und Vergleichen guter Aufnahmen oder mit Singalongs und Playbacks (z.B auf der Seite liederprojekt.org). Falls der Chor über Stimmproben-CDs (oder mp3s) verfügt, können diese zur Auffrischung des Repertoires allen zugänglich gemacht werden.

Es gibt also eine Fülle an Möglichkeiten, wie ChorsängerInnen, Vorstände und ChorleiterInnen die aktuelle Herausforderung nutzen können. Denn Singen ist einfach zu gesund, um damit aufzuhören.

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