Wer hätte vor knapp einem Jahr, im Februar 2020, sich auch nur im entferntesten ausmalen können, dass das Jahr 2021 so beginnen würde, wie wir es gerade erleben? Ein Kultur-Lockdown war in unseren Breiten gänzlich unbekannt, und auch die Aussicht, dass es derzeit so etwas wie Aussichten gar nicht gibt, ist höchst ungewohnt und für all jene, die in der Kulturbranche tätig sind, alles andere als rosig.

Ich habe im vergangenen Jahr damit begonnen, mich für die Arbeit von Zukunftsforschern zu interessieren. Diese erstellen mehr oder weniger qualifizierte Prognosen, die dann in Form von Szenarien präsentiert werden, in welchen sich abzeichnende Tendenzen weitergedacht werden.

Für die Kulturszene habe ich von solchen Szenarien bisher noch nicht gehört, was auch damit zusammen hängen kann, dass die Kultur eine der am schwersten getroffenen Branchen gilt, und es möglicherweise am schwierigsten ist, Prognosen abzugeben. Ich kenne jedenfalls aktuell niemanden, der es wagt, solches zu tun.

Mich persönlich wundert das auch nicht wirklich – mit einem zweiten Lockdown im November hatte ich selber überhaupt nicht gerechnet. Ich hatte gedacht: „Das trauen sie sich nicht!“ – und wurde eines Besseren belehrt. Nun befindet sich unsere Kulturnation in der xten Verlängerung des Lockdowns, und ich meine, es ist Zeit für Perspektiven – auch wenn diese noch so unbeholfen daherkommen. Daher wage ich einen Versuch, der nicht mehr als ein Vorschlag und Denkanstoß sein soll.

Methodische Vorbemerkung: Ich bin kein Zukunftsforscher, sondern Musiker. Mein Versuch ist eher als „Stilkopie“ zu sehen, in dem Sinne wie man ein Menuett im Stile Mozarts schreiben kann, ohne ein Mozart zu sein. In diesem Sinne versuche ich im Stil der Zukunftsforscher zu denken. Ich gehe ausschließlich von meiner eigenen Wahrnehmung der Krise aus, in wieweit sie mich betrifft und welche Auswege ich sehe.

Szenario A: Wir wollen unser altes (kulturelles) Leben zurück!

Um es gleich vorneweg zu sagen: Auch wenn mir dies das liebste der drei Szenarien ist, halte ich es zugleich für das Unwahrscheinlichste. Damit das kulturelle Leben genauso fortgesetzt werden kann wie vor dem Ausbruch der Pandemie, müsste mindestens eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:

a) Das Virus wird vollständig eingedämmt: das ist nicht zu erwarten, da schon jetzt zahlreiche Mutationen des Virus im Umlauf sind und es nicht anzunehmen ist, dass es aufhört zu mutieren. Auch die Versuche mit einer Impfung der gesamten Bevölkerung werden voraussichtlich nicht zu einer vollständigen Eindämmung beitragen – schon jetzt sind Stimmen zu hören, dass die Impfung ähnlich wie bei der Grippe jährlich erneuert werden müsste. Zudem mehren sich von Regierungsseite die Hinweise, dass auch bei konsequenter Anwendung der Impfstrategie eine „alte Normalität“ nicht zu erwarten ist (und von seiten des Weltwirtschaftsforums ist zu hören, dass es eine Normalität nicht geben kann).

b) Das Virus wird als natürliches Risiko in Kauf genommen, aber nicht als Einschränkung des normalen Lebens bewertet: das ist ebenfalls nicht zu erwarten, da die Bundesregierung ihren seit Beginn der Pandemie eingeschlagenen Kurs vollständig neu bewerten müsste (was nicht anzunehmen ist). Auch müsste es einen Verzicht auf allzu kleinteiliges Gesundheits-Monitoring geben, was dem allgemeinen Trend zu zunehmender Datenerfassung zuwider laufen würde. Es könnte höchstens sein, dass die Bevölkerung irgendwann rebelliert, wenn sie durch die Pandemie-Maßnahmen zu lange und zu sehr an ihrer Alltagsgestaltung gehindert wird. Dann könnte ein Umdenken stattfinden.

c) Kulturschaffende müssten die Wiederherstellung des Status quo ante im Kulturbetrieb massiv einfordern: Auch wenn dies noch die wahrscheinlichste Voraussetzung für die Rückkehr ins alte Leben ist, halte ich sie dennoch aus drei Gründen für unwahrscheinlich: 1) Kulturschaffende sind zu individualistisch und zu wenig organisiert, 2) Die bisherigen Aktionen (Alarmstufe Rot, Sang- und Klanglos, Aufstehen für die Kunst) wurden und werden nicht konsequent durchgehalten, 3) Kulturschaffende fühlten sich eingeschüchtert durch mediales Framing (Kritiker seien „rechts“ zu verorten) und äußern sich nicht öffentlich.

Szenario B) Wir suchen nach Lösungen (auch nach Hybridmodellen)

Dieses Szenario erscheint mir kurz- und mittelfristig das schonenste und offenste – falls es eine umfassende Evaluation der bisherigen Pandemie-Maßnahmen und eine breite öffentliche Debatte darüber geben wird (was ich hoffe!), könnte sich von hier aus der allgemeine Kurs – je nach Bedarf – in Richtung A oder C entwickeln (oder bei B verbleiben). Allerdings hätte dieses Szenario schon eine ganze Reihe von Konsequenzen für den bisher bekannten (und derzeit im Lockdown stillgelegten) Kulturbetrieb:

a) Der bisher bekannte Proben- und Konzertbetrieb könnte nur in stark reduzierter Form präsent und analog stattfinden: Die bekannten Hygienekonzepte müssten konsequent angewendet werden, Besetzungen und Publikum müssten stark reduziert werden, mit drastischen Einbußen bei den Umsätzen. Gegebenenfalls müssten bauliche Veränderungen oder gar Neubauten (mit dem Fokus auf Open-Air-Lösungen) vorgenommen werden.

b) Die bekannten analogen Methoden müssten ergänzt werden durch digitale und hybride Möglichkeiten: Live-Konzerte würden mit geringem Publikum live und weltweitem Publikum im Livestream durchgeführt, sowie als On-Demand-Video verfügbar. Auch Proben würden teils präsent und teils digital durchgeführt. Hier müsste massiv in digitale Infrastruktur investiert werden.

c) Finanzierungs- und Kontaktmöglichkeiten zwischen Künstlern, Veranstaltern und Publikum müssten neu konzipiert werden (Bonusmaterial, Interaktivität, etc.): Noch ist völlig unklar, wie man mit hybriden und digitalen Konzertformaten gewinnbringend konzertieren kann, bzw. wie die unterschiedlichen Formate finanziell bewertet werden (Live-Erlebnis für wenige, digitales Streaming weltweit)

Szenario C) Digital ist das Neue Normal

Dieses Szenario ist nach meinem Empfinden das am wenigsten wünschenswerte, aber gleichzeitig das am meisten befürwortete von Seiten der globalen Industrie (Weltwirtschaftsforum), in deren Ideologie (Vierte Industrielle Revolution) Kunst und Kultur nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt und darin dem Entertainment gleichgesetzt wird. Nun bietet die Digitalität auch Chancen und nicht nur Risiken, dennoch ist meiner Meinung nach Vorsicht geboten, denn die derzeit vorherrschenden Akteure scheinen wenig Sinn für Kultur zu haben…

Falls dieses (derzeit wahrscheinlichste) Szenario sich durchsetzen sollte, hat dies weitreichende Konsequenzen für den uns bekannten Kulturbetrieb:

a) künstlerische Formate müssten sich nahezu vollständig an den technischen Gegebenheiten orientieren (die alten Konzertformate würden in Hinblick auf Klangqualität und Erlebniswert in digitalen Medien als „defizitär“ wahrgenommen) – dies böte die Chance, völlig neue Kunstformen zu erschaffen.

b) der Musikerberuf müsste völlig neue Geschäftsmodelle entwickeln (bisher lässt sich mit Streaming noch kein Geld verdienen), dazu müsste sich die Kultur im Internet von der bisher praktizierten (werbefinanzierten) Gratiskultur emanzipieren.

c) die Musikausbildung würde sich völlig umorientieren, weg vom klassischen Orchestermusiker hin zum Performer – dies hätte einen vollständigen Umbau der Institutionen in Richtung Produktion, Programming, Networking etc. zur Folge.

Schon jetzt zeichnen sich einige Tendenzen in der Entwicklung ab, die ich hier nur skizzieren kann:

1) digitale Formate werden zunehmen, analoge eher abnehmen

2) klassische oder traditionelle Musik wird abnehmen, aktuelle und massentaugliche eher zunehmen

3) Musikerleben wird überwiegend durch Medien vermittelt, unmittelbares Musikerleben wird den Status der Exklusivität annehmen

Schlussbemerkung

Selbstverständlich ist der weitere Verlauf der Pandemie unvorhersehbar und stellt die große Unbekannte in allen Berechnungen dar. In den Versuchen der Regierungen, diese in den Griff zu bekommen, lassen sich derzeit drei Formen von Reaktionen beobachten:

a) totalitäre Antwort (z.B. China, Philippinen, Singapur): die Bevölkerung wird mit härtesten Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung gezwungen, dafür wird eine Rückkehr in die Normalität in Aussicht gestellt, allerdings unter der Voraussetzung von staatlicher Total-Überwachung

b) Mittelweg (z.B. Deutschland): die Bevölkerung wird per Verordnung zur Einhaltung der Maßnahmen verpflichtet, ein Teil-Lockdown wird verhängt (der vor allem die Kulturbranche hart trifft), flankiert durch temporäres Aussetzen der Grundrechte und Teil-Überwachung.

c) Laissez-Faire (z.B. Schweden): Maßnahmen werden empfohlen, nicht verordnet, das normale Leben wird weitergeführt, allerdings mit allgemeiner Vorsicht und Rücksichtnahme.

Ich mache keinen Hehl daraus, dass meine volle Sympathie dem schwedischen Modell gehört, denn Leben ist mehr als Gesund- oder Krankheit, und Politik sollte mehr als Verhaltensmanagement sein, nämlich eine Vision für die Zukunft haben. Und wenn diese Zukunft Kunst und Kultur (die nichts weniger als die Seele und Identität einer Gesellschaft darstellen) zu opfern bereit ist, muss sie sich fragen lassen, ob diese Zukunft in aller Konsequenz wünschens- und lebenswert ist.

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