Darf ich vorstellen? Das ist CARLA.
CARLA steht für Cargo-Lastenrad – es handelt sich um einen Fahrradanhänger, der (mit und ohne E-Bike-Unterstützung) bestens geeignet ist, ein Klavier zu transportieren, und dazu noch für die Nutzung von Radwegen zugelassen ist.
Entworfen und gebaut wird CARLA von der Firma Carla Cargo aus Kenzingen.
Am 9.10. habe ich meine erste Probefahrt mit einem Gespann gemacht, das ich bei der Selbsthilfewerkstatt Velolastenrad Freiburg kostenlos (!) mieten durfte. Genau eine Woche später, am 16.10., habe ich die Kombination E-Bike-Carla-Trailer erneut gemietet, diesmal mit einem Klavier an Bord. Die Probefahrt fand mit Unterstützung der Firma Klavierhaus Kahl in Kirchzarten statt.
Schon bei der erste Runde auf dem Werksgelände zeigte sich: CARLA ist perfekt von ihren Abmessungen, nicht nur um ein Klavier zu transportieren, sondern auch um direkt auf dem Hänger zu spielen. Denn die Füße haben bequem Platz, um das Pedal zu bedienen, nur eine um 10cm erhöhte Klavierbank ist erforderlich, um die Höhe der Ladefläche auszugleichen.
Allerdings: Ein normales Klavier von 1,10m Höhe ist schon fast zu schwer bei einer zulässigen Nutzlast von 150kg – je kleiner und je leichter das Klavier, desto besser. Zudem muss es fest auf der Bodenplatte der CARLA verschraubt sein, da schon leichte Bodenwellen und Bordsteine (die man besser mit beiden Rädern gleichzeitig hinauf- oder herabfährt) das Klavier ins Schwanken bringen.
Sind diese Probleme einmal gelöst, ist das Fahren mit dem Gespann das reinste Vergnügen: Man fährt einfach dorthin, wo ein potenzielles Publikum zu finden ist, steigt ab und spielt gleich drauflos. Nicht nur sind der Spontaneität keine Grenzen gesetzt, auch sind spannende und ungewöhnliche Aufführungsorte leicht erreichbar. Um die Reichweite muss man sich ebenfalls keine Sorgen machen: Während man spielt, kann der Akku wieder aufgeladen werden, denn das geht an jeder Steckdose.
Mit einem solchen Fahrrad-Street-Piano kann man nun endlich auch als Pianist Straßenmusik machen. Allerdings ist das gar nicht das vorrangige Ziel meines Vorhabens. Vielmehr möchte ich einen Beitrag zu einer Musikkultur leisten, die durch vielfältige Umwälzungen (Klimawandel, Pandemie) unter Druck geraten ist und sich ganz neu konfigurieren muss. Ein paar Aspekte der veränderten Grundbedingungen der neuen Musikkultur möchte ich im Folgenden skizzieren:
1) Vom expansiven zum kontraktiven Konzertbetrieb
Viele Künstler träumen von einem Dasein auf Reisen, am liebsten auf Welttournee. Dies ist unter den Bedingungen des Klimawandels, angesichts des an seine Grenzen geratenen Wachstumsparadigmas, fragwürdig geworden: Müssen, oder besser: können immer mehr MusikerInnen immer mehr Länder bereisen, um künstlerisch relevant zu sein?
Im Spätkapitalismus ist auch der Konzertbetrieb gnadenlos der Steigerungslogik der Moderne unterworfen: Es muss von allem immer mehr und immer Größeres geboten werden, damit man überhaupt wahrgenommen wird. Es dürfte eine Frage der Vernunft sein, dass dies nicht so weitergehen kann.
Ein radikaler Gegenentwurf wäre ein klimaneutrales (besser: umweltfreundliches) Reisen mit dem Fahrrad in der eigenen Regio, was persönliche Begegnungen, das Knüpfen freundschaftlicher Kontakte und die Bindung an sein eigenes Publikum einschließt. Man kennt sich, und die Konzertkultur bekommt eine Beziehungsqualität.
2) Vom elitären Konzertbetrieb zur kulturellen Teilhabe
Schon seit Jahrzehnten zerbrechen sich KonzertpädagogInnen die Köpfe darüber, wie man neues Publikum für ihre Spielstätten gewinnen kann. Aktuell ist vor allem die zahlungskräftige Generation Silberhaar in den Sinfoniekonzerten zu finden, sowie deren Kinder und Enkel in betreuten, pädagogisch wertvollen Familienkonzerten. Es handelt sich allerdings vornehmlich um die Schicht der Bildungsbürger, denn auch wenn der Besuch von Opernhäusern nicht mehr an strenge Dresscodes gebunden ist, ist dieser doch nicht ganz barrierefrei.
Der nicht weniger radikale Gegenentwurf wäre, nicht mehr sein Publikum an bestimmten Veranstaltungsorten zu erwarten, sondern im Gegenteil dorthin zu gehen, wo sich ohnehin Menschen befinden – auf Märkten, Festen, öffentlichen Plätzen. Es wird weder Eintritt verlangt, noch muss man etwas Besonderes dafür tun, am Kunstgenuss teilzuhaben. Man ist einfach da, und im Zweifelsfall positiv überrascht und dankbar.
3) Vom Kulturbetrieb unter Auflagen zum freien Kulturereignis
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben dem Kulturbetrieb nicht nur den längsten Lockdown der Geschichte beschert, sondern ihn auch mit dauerhaften Einschränkungen versehen. Aktuell darf man nur an Kulturveranstaltungen teilnehmen, wenn man ein Gesundheitszeugnis (Impfpass, Genesenennachweis oder aktuellen Test) vorlegen kann.
Die einzige Ausnahme stellen derzeit noch Darbietungen unter freiem Himmel dar, die nicht als Veranstaltungen zählen, weil sie spontan und unangekündigt stattfinden. Unter diesen Bedingungen hat die klassische Straßenmusik einen schlagenden Vorteil gegenüber allen Open-Air-Events: sie benötigt kein Hygienekonzept, weder Darbietende noch ZuschauerInnen müssen sich irgendeiner Kontrolle unterziehen bzw. einer Beschränkung unterwerfen. Es sieht fast so aus, als könnten wir heutzutage nur noch in der Straßenmusik jene Konzertkultur erleben, wie wir sie kannten – bevor die „Corona-Politik“ sich ihrer bemächtigte.
4) Von einer elitären Veranstaltung zum sozialen Projekt
Kannte man Konzertveranstaltungen bisher als Begegnung des Bildungsbürgertums, das gewillt war, einen anständigen Preis dafür zu zahlen, dass man unter sich bleibt und ein distinguierter Künstler von der Bühne auf sie herab spielt – wie könnten sie in der Zukunft aussehen? Wenn die Zielgruppe nicht mehr jene ist, die am meisten zu zahlen bereit ist, sondern diejenige, die der Musik am meisten bedürftig ist? – Alte, Kranke, Kinder … Enthusiasten, Träumer, Visionäre?
Dann könnte Musik eine ganz neue gesellschaftliche Funktion bekommen: heilen, helfen, kommunizieren, verbinden, inspirieren. MusikerInnen, die solches probieren, können sich als Anlaufstellen gezielt Pflegeheime, Krankenhäuser, Grundschulen ausschauen, aber auch Begegnungsstätten, Bioläden, Ökobauernhöfe, Weingüter etc. Die Auswahl der Aufführungsorte könnte Akzente setzen und gezielt jene Orte anspielen, die etwas Gutes, Zukunftsfähiges beizutragen haben.
Der konzertante Vortrag kann in ein Wunschkonzert oder ein offenes Singen übergehen. Vielleicht sind die musikalischen Ereignisse unter solchen Bedingungen nicht immer plattenreif, aber sie werden in Erinnerung bleiben. Vielleicht braucht es auch eine neue Generation von Spielern, die bereit sind, sich solchen musikalischen Abenteuern zu stellen.
Mein E-Bike-Gespann ist gekauft, das Klavier in der Werkstatt – die letzten sonnigen Tage des Jahres werde ich nutzen, um erste Testfahrten zu unternehmen. Ich freue mich darauf. Und Sie werden davon erfahren.
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