Ich bin ein durch und durch optimistischer Mensch und glaube fest daran, dass irgendwie, irgendwo, irgendwann alles wieder gut wird. Aber ich stimme dem zu, was derzeit viele MusikerInnen in Kulturmagazinen und Feuilletons ausdrücken: Die Stilllegung des öffentlichen Lebens ist eine Katastrophe für das Musikleben.
Die Katastrophe besteht nicht nur darin, dass auf Monate Konzerte und Festivals abgesagt wurden, welche den Ziel- und Höhepunkt monate- und jahrelanger musikalischer Arbeit darstellen. Sie besteht auch darin, dass der Kontakt der MusikerInnen zu ihrem Publikum vermutlich für noch längere Zeit unterbochen wird. Denn dieses gewöhnt sich gerade an den Gedanken, dass größere Ansammlungen von Menschen irgendwie „gefährlich“ sind.
Die weitaus größte Katastrophe scheint mir jedoch zu sein, dass es völlig in den Sternen steht, wann und wie eine geordnete Rückkehr zum normalen Konzertbetrieb möglich ist. Und ob dieser in der bekannten Form überhaupt noch möglich ist.
Selbst wenn man sich dazu entschließen sollte, in den nächsten Wochen die Kontaktverbote nach und nach zu lockern (derzeit sind im öffentlichen Raum max. 2 Personen bei einem Abstand von mind. 2 Metern zugelassen), wird es eine ganze Weile dauern, bis Normalgrößen von Chören (ca. 20-50 Personen) und Orchestern (40-100 Personen) zugelassen werden – nicht zu vergessen die entsprechende Zuhörerschaft (100-1000???). Und selbst wenn wieder alles erlaubt ist, dürfte es noch einige Zeit dauern, bis das Publikum sich sicher genug fühlt, wieder massenhaft in Konzerte zu strömen.
Ab wann werden sich also Veranstaltungen dieser Größenordnungen (Oper, Oratorium, Symphoniekonzert) wieder lohnen? In 3 Monaten? Oder erst in zwei Jahren? Wer traut sich an die Planung, wo es ist derzeit unmöglich ist, Prognosen in die eine oder andere Richtung abzugeben? Das wäre aber für die betroffenen KünstlerInnen und Veranstalter von erheblicher Bedeutung.
* * *
Dies scheint mir die Stunde der Kammermusik zu sein: kleine Ensembles, die für ein (sehr) kleines Publikum musizieren – in privatem Rahmen, etwa einer Abendgesellschaft, gegen Festgage oder Spenden. Kleine a cappella-Gruppen, Bands unplugged oder Jazztrio, gemischte Programme und offene Formate, bei denen zwischen Musikern und Zuhörern kein Unterschied mehr besteht. Abendessen, Geselligkeit, in privatem oder halböffentlichem Rahmen, vom Wohnzimmerkonzert bis zur Soiree im bürgerlichen Salon.
All dies sollte gesetzeskonform geschehen, d.h. angepasst an die aktuell zulässigen Versammlungsgrößen, jedoch beliebig erweiterbar: Nach heutigem Stand würden 2-3 Spieler auf 3-2 Zuhörer treffen dürfen – vielleicht dürfen es bald wieder mehr sein? Das Modell müsste so flexibel sein, dass es auch auf kurzfristige Verschärfungen der Gesetzeslage reagieren könnte.
Und hier ist das Modell: es besteht aus einem Verteiler, der kleinste Ensembles und ihre Programme zusammenbringt mit Menschen, die private Spielorte und finanzielle Förderung zur Verfügung stellen. Die Ensembles können bereits bestehen oder eigens gegründet werden – auch auf Nachfrage der Förderer, die vielleicht gern eine ganz spezielle Musik hören würden (die vielleicht auch noch komponiert oder arrangiert werden müsste).
Hier wäre wichtig, dass dieses Modell nicht nur Ensembles aus den Reihen festangestellter Orchestermitglieder zur Verfügung steht, sondern vorrangig den vielen freien MusikerInnen, SängerInnen, SchauspielerInnen etc., die noch viel stärker als ihre fest angestellten KollegInnen vom Stillstand des Konzertlebens betroffen sind.
Die entscheidende Rolle bei der Herstellung eines solchen Konzertlebens kommt allerdings den Förderern zu, die als Veranstalter, Sponsoren, Ermöglicher und Genießer jedes einzelne Event prägen. Es werden treue Konzertbesucher sein, denen das Konzerterlebnis fehlt, Mitglieder der Fördergesellschaften, oder einfach Privatpersonen, die Freude an Experimenten haben. Irgendwo da draußen gibt es sie – Bitte melden Sie sich!
Das Ganze würde zunächst durch die sehr strenge Begrenzung der Personenzahl einen sehr exklusiven Charakter haben, dafür könnten sehr viele dieser Formate an sehr vielen unterschiedlichen Orten gleichzeitig stattfinden. Nach und nach könnten die Personenkreise wieder anwachsen – es sei denn, man möchte die Wohnzimmeratmosphäre einfach beibehalten.
Und selbstverständlich kann das Ganze auch noch „nach Corona“ weiterlaufen. Dann wäre es mehr als ein Notbehelf in schwieriger Zeit, sondern nichts weniger als ein Revival bürgerlicher Musikkultur.
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