In den verbleibenden Wochen vor der Bundestagswahl finden wir nochmals in zugespitzter Form vor, wohin sich die öffentliche Kommunikation in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Es dominieren Reizthemen, und die Polarisierung von Parteien, Personen und Positionen macht es nicht gerade einfach, jene konstruktiven Vorschläge herauszufiltern, die doch zum Wohl unserer Gesellschaft beitragen sollen.

Irgendwann habe ich mich gefragt, wo in dem ganzen Getöse die Stimme der Kultur zu hören ist. Ist sie etwa verstummt? Sollte es sich nicht lohnen, sie zum Thema zu machen? Man muss nach den Menschen suchen, die sich von ihr angesprochen fühlen und darüber sprechen.

Allerdings: in Wahlprogrammen findet sich Erstaunliches, und Erbauliches. Und es wäre äußerst wünschenswert, wenn die dort genannten Vorschläge zur Stärkung von Kunst und Kultur nicht allein reine Wahlversprechen bleiben, sondern tatsächlich realisiert würden.

Damit es dazu kommt, sollten wir, denen Kunst und Kultur ein Anliegen ist, zuerst mehr darüber sprechen.

In meinem Brief an die Kandidatinnen und Kandidaten der Bundestagswahl habe ich dies versucht. Ihre Antworten werden an dieser Stelle veröffentlicht, in der Hoffnung, dass sie zu fruchtbaren Debatten führen. Zudem will ich selber versuchen, die Stimme der Kultur dort zur Sprache zu bringen, wo ich denke, dass sie etwas zu sagen hat.

Aber zunächst: Was ist eigentlich Kultur? Meinen wir wirklich dasselbe, wenn wir uns über „Kultur“ austauschen?

* Der Begriff „Kultur“ verweist ursprünglich auf die Landwirtschaft und bedeutet einfach „Pflege“ des Landes bzw. der Natur. Im übertragenen Sinne kann Kultur eine Gesellschaft fruchtbar machen, indem sie schöpferisch wird und Neues hervorbringt. Kultur steht damit nicht im Gegensatz zur Natur oder in Konkurrenz mit der Natur, sondern im fruchtbaren Dialog mit ihr. Kultur und Ökologie können heute zusammengedacht werden, und so sollte auch Kultur nachhaltig gestaltet werden.

* Eine andere Bedeutung von Kultur ist „Zivilisation“, gemeint ist dabei weniger die Unterscheidung von „Kulturen“ im Sinne ihrer unterschiedlichen Lebensweisen, sondern eine kulturelle Evolution von Gesellschaften mit zivilisierender Wirkung. Die Entwicklungsstadien von Kulturen lassen sich anhand von Kategorien wie ethnozentrisch und weltzentrisch beschreiben: ein globales Bewusstsein fördert einen kultivierten Umgang der Völker untereinander. Auf einer regionalen Ebene ist schon ein kultiviertes Miteinander unter Nachbarn eine zivilisatorische Leistung – wieviel mehr erst der Umgang mit Minderheiten, Fremden und Feinden?

* Auf regionaler Ebene werden wir uns „unserer Kultur“ bewusst und meinen damit Gemeinsamkeiten in der Lebensweise, gemeinsame Werte und Errungenschaften, auf die wir stolz sind und mit denen wir uns identifizieren. Dazu können Umgangsformen gehören, Traditionen, aber auch Kunstwerke.

* Kultur bedeutet nämlich auch: Kunst, Musik, Tanz, Literatur – und damit jegliche Form künstlerischen Ausdrucks. Es sei hervorzuheben, dass es bei „Kunst und Kultur“ nicht nur um Freizeitbeschäftigungen und Unterhaltung geht, sondern dass es große und bedeutende Kunst gibt, die Ausdruck des Schönen und von Erhabenheit ist und gleichzeitig ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Künstlerinnen und Künstler haben es als ihre Berufung angesehen, solche Kunst zu schaffen, und es zu ihrem Beruf gemacht. Ein Staatswesen, dass dies anerkennt, erkennt den wesentlichen Beitrag der Kultur zur gesellschaftlichen Bildung.

Bereits die genannten Aspekte von Kultur haben vielfältige Schnittmengen und recht unterschiedliche Geltungsansprüche. Wer über Kultur spricht und gar Kulturpolitik treibt, muss dem Rechnung tragen. Leider werden in der Diskussion über Kultur und Kulturpolitik oft Dinge miteinander vermischt. Eine Folge davon ist, dass Kultur und Soziales oder Hochkultur und Breitenkultur in den zu erwartenden Verteilungskämpfen gegeneinander ausgespielt werden.

Ein weiteres Beispiel ist die Wiederaufnahme der Debatte um eine deutsche Leitkultur. Sie ist sicherlich konstruktiv gemeint, etwa als der notwendige Versuch, sich gemeinsamer Werte bewusst zu werden und auf Basis dieser Werte zu verständigen. Gleichwohl dürfte sie sich vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um das Thema Migration in ihr Gegenteil verkehren und anstelle eines Bekenntnis zu positiv besetzten Werten zur Abgrenzung von „anderen Kulturen“ führen. Dies wird heftige Abwehrreflexe bei jenen hervorrufen, die von einer multikulturellen Gesellschaft träumen. Und damit wäre abermals die Chance vertan, eine sinnvolle Verständigung über gesellschaftliche Werte zu erzielen.

Ist denn eine Wertedebatte auf nationaler Ebene wirklich unvereinbar mit einem multikulturellen Ansatz? Wäre es nicht möglich, die Schnittmengen beider Sichtweisen auszuloten und zu integrieren?

Die Kulturbranche war schon immer multikulturell: an den Musikhochschulen studieren Menschen aus vielen Ländern und jedes Orchester ist eine Philharmonie der Nationen. Gleichzeitig funktioniert das Zusammenspiel nach klaren Spielregeln, und die Kultur hat über Jahrhunderte einen Kanon herausgebildet, der unter Einbeziehung regionalet Unterschiede breite Akzeptanz findet.

Gerade weil Kultur Dinge „kann“, die anderswo schwierig, wenn nicht gar unmöglich scheinen, ist es fatal, wenn aus kurzfristigen wirtschaftlichen Erwägungen an Kultur, besonders an kultureller Bildung gespart wird. Denn kulturelle Bildung vermittelt Werte, deren wir in diesen Tagen dringender denn je bedürfen:

– Die Kunst des Zuhörens: Zuhören ist nicht nur die Voraussetzung für gelingendes Musizieren, sondern für gesellschaftliche Verständigung jeder Art.

– Die Erfahrung von Harmonie: Dissonanzen auflösen, Vielstimmigkeit ausbalancieren – all dies ist Alltag und Standard in der Arbeit an musikalischen Werken.

– Die Erfahrung von Ganzheit – Friedrich Schiller wusste, dass der Mensch dort ganz Mensch ist, wo er spielt.

Es gibt noch viele weitere Gründe, warum Kultur ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft ist und warum Politik sich nicht dazu hinreißen lassen sollte, sie zugunsten medientauglicheren Themen zu ignorieren.

Darum: Lasst (uns über) Kultur sprechen.

Neueste Beiträge

Lasst Kultur sprechen!

16. Februar 2025|Kommentare deaktiviert für Lasst Kultur sprechen!

In den verbleibenden Wochen vor der Bundestagswahl finden wir nochmals in zugespitzter Form vor, wohin sich die öffentliche Kommunikation in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Es dominieren Reizthemen, und die Polarisierung von Parteien, Personen und [...]

Zur Bundestagswahl 2025: Anfrage aus dem Kulturbereich – UPDATE

9. Februar 2025|Kommentare deaktiviert für Zur Bundestagswahl 2025: Anfrage aus dem Kulturbereich – UPDATE

Wir befinden uns wieder im Bundeswahlkampf, und es sind nur noch zwei Wochen, bis Deutschland eine neue Bundesregierung wählt. Im Wahlkampf dominieren erwartungsgemäß die heißen Themen Migration, Krieg und Frieden, die Palästinafrage, Klimawandel und Wirtschaftspolitik. [...]

Ich habe mich geirrt!

18. Februar 2022|Kommentare deaktiviert für Ich habe mich geirrt!

Wenn sich die Sachlage ändert, ändere ich meine Meinung Nach knapp zwei Jahren Pandemie muss ich einsehen und freimütig bekennen, dass ich die ganze Zeit über offenbar einem Irrtum erlegen bin: Ich dachte, das „neuartige [...]

„Umarmungen, Feiern und Festivals“

1. Februar 2022|Kommentare deaktiviert für „Umarmungen, Feiern und Festivals“

Ein Öffnungsprogramm für Kunst und Kultur Die titelgebende Aussage für diesen Text stammt von der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Auf ihrer Pressekonferenz vom 26.1. kündigte sie das Ende aller Corona-Maßnahmen für den heutigen 1.2. in [...]

Neustart Kultur oder Great Reset?

9. Januar 2022|Kommentare deaktiviert für Neustart Kultur oder Great Reset?

Wollen wir wirklich eine Gesundheitskrise lösen – oder zu einer Machtverschiebung beitragen? Wir befinden uns im Jahr 3 der Pandemie, und noch immer scheint kein Land in Sicht. Gerade wurden die Zutrittsbeschränkungen für Restaurants, Bars [...]

Es ist Zeit für einen Bewusstseinswandel … wenn wir überleben wollen

4. Dezember 2021|Kommentare deaktiviert für Es ist Zeit für einen Bewusstseinswandel … wenn wir überleben wollen

Ich bin Musiker und kein Philosoph, habe nur begrenzte Kenntnis von Geschichte, Theologie, Psychologie etc. und halte es mit Sokrates, von dem der Ausspruch stammt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“. Gleichwohl entbindet uns das [...]