PARTITURSPIEL UND ENSEMBLESPIEL

Einen entscheidenden Vorteil hat das Klavier den meisten anderen Instrumenten gegenüber: es ist sowohl Melodie- als auch Harmonieinstrument, bisweilen sogar Schlaginstrument (in der so genannten Unterhaltungsmusik zählt es zur Rhythmusgruppe). Über die Jahrhunderte hat es sich den Ruf als Universalinstrument, gar als Miniaturorchester erworben. Tatsächlich kann man selbst große Orchestermusik darauf so darstellen, dass man gar nicht das Gefühl hat, auf irgendetwas verzichten zu müssen. Fazit: Auf dem Klavier allein kann man so gut wie alles spielen.

Dieser Vorzug birgt allerdings einen Nachteil: Pianisten brauchen gar keine Mitspieler, sie sind sich selbst genug. Und so entsteht bei manchen Spielern auch gar kein Bedürfnis, sich mit anderen zusammenzutun – sie können ja alles alleine und sind nicht auf Begleitung angewiesen (von Concerti einmal abgesehen).

Man kennt ja den Typus des weltentrückten, asketischen Einsiedlers, der schon mal den Saal verlässt, wenn das Publikum nicht mucksmäuschenstill ist. Unter allen Instrumentalisten finden sich die meisten Nerds wahrscheinlich bei den Pianisten – man hört ja immer wieder z.B. von genialen klavierspielenden Autisten. Solche Phänomene sind mir bei anderen Instrumentalgruppen nicht bekannt.

Ganz im Gegensatz dazu gibt es sehr kontaktfreudige Pianisten, die Kammermusik und Liedgestaltung pflegen, Konzertreihen und Festivals gründen, Orchester leiten etc., weil sie möglicherweise die Polyphonie, die sie unter ihren Händen erfahren, auch in der Gesellschaft erleben möchten. Zu solchen Überlegungen ganzheitlich-philosphischen Natur seien insbesondere die Schriften Daniel Barenboims wärmstens empfohlen.

Vielleicht genießen die gesellschaftlich orientierten (und engagierten) Klavieristen es immer noch, im Mittelpunkt zu stehen, neben der Solistenrollen etwa auch noch zusätzliche Leitungsfunktion auszuüben, aber dabei teilen zu können, sich auszutauschen und die Fülle der Möglichkeiten auszukosten, die kollektives Musizieren mit sich bringt. Die dazu nötigen Teamplayer-Qualitäten sollen hier Thema sein.

Dass sich nicht nur bereichernde musikalische Erfahrungen im Kollektiv machen lassen, sondern sich hier auch vielfältige zusätzliche Berufsaussichten eröffnen, dürfte zu den wichtigsten Informationen gehören, die eine Hochschule ihren Absolventen zu vermitteln hätte. Neben dem versierten Liedbegleiter und Kammermusiker, der vielleicht während des Studiums schon seine zukünftigen EnsemblekollegInnen kennenlernt, gibt es etwa die Möglichkeit, bei Chören und Orchestern zu korrepetieren. Was manchen zunächst wie eine Hilfsdienerschaft anmutet, ist eine ausgesprochen komplexe Tätigkeit, welche höchste Anerkennung verdient. Denn man ist nicht nur verantwortlich für den Erfolg einer Einstudierung, sondern sitzt ja häufig bei deren Aufführung selbst am Flügel.

Vom Korrepetitor aus ist es nicht weit zu einer Kapellmeister- oder Dirigententätigkeit: Viele Spieler des Miniaturorchesters Klavier wollen früher oder später einfach mal ein großes Orchester leiten – und sei es nur bei Concerti, welche sie vom Soloklavier aus dirigieren.

Alle notwendigen Fertigkeiten bzw. darauf vorbereitende praktische Übungen könnten schon während des Studiums vermittelt werden – entsprechende Kontakte, etwa zu Chören oder zum lokalen Stadttheater können ebenfalls während des Studiums geknüpft werden. Und wer weit über den eigenen Tellerrand zu blicken vermag, hat später jede Menge KollegInnen aus vielen musikalischen Berufszweigen, die sich an einen erinnern (und gleich engagieren).

Zu den Schlüsselqualifikationen, die wir als Hochschule vermitteln wollen – welche aber in keinem einzigen Modulplan zu finden sind – gehört die Sozialkompetenz. Gerade Pianisten sind, wenn auch nicht in Gefahr, wohl aber einem gewissen Mangel an Gelegenheiten ausgesetzt, diese zu entwickeln. Weil wir immer nur üben müssen, haben wir notwendigerweise wenig Sozialleben – oder vielleicht gerade deshalb ein größeres Bedürfnis danach … ?

In den folgenden Besprechungen der Themen Partiturspiel und Ensemblespiel wollen wir möglichst viele Funktionen erkunden, die PianistInnen musikalisch ausüben können, und bei denen sie sich als Teamplayer erproben können. Vielleicht ist das ja für den/die eine/n oder andere/n ja sogar ein Zukunftsmodell …

PARTITURSPIEL

Mein wichtigster Tipp, bevor Sie starten: Spielen Sie lieber leichte Stücke (oder kleine Abschnitte oder wenige Stimmen) und dafür im Tempo! Für Einsteiger empfehle ich wärmstens Alfred Stengers „Partiturspielen leichtgemacht“.

I. Übungen in verschiedenen Schlüsseln

Zum Üben der sogenannten „C-Schlüssel“ (Sopran-/Alt-/Tenor-Schlüssel) sei empfohlen, diese möglichst nicht relativ (also durch „Umrechnen“ etwa des Violinschlüssels) einzustudieren, sondern sich das mittlere c‘ und weitere Gerüsttöne optisch einzuprägen, den Rest davon zunächst abzuzählen. Danach immer mehr Töne optisch einprägen, bis Sie nach und nach alle Töne absolut lesen können. Nutzen Sie dazu am besten bekannte Literatur, die Sie „im Ohr haben“.

Übung: Spielen Sie aus bekannten Partituren die Violastimme (Altschlüssel), Cello- oder Fagottstimmen in hoher Lage (Tenorschlüssel) oder Alte Musik in Alten Schlüsseln (z.B. die Bachchoräle in der Ausgabe von Woldemar Bargiel)

Übung: Spielen Sie aus Originalmanuskripten der Alten Musik.

II. Übungen im Transponieren

Beim Transponieren tonaler Musik empfehle ich, sich zuerst die Zieltonart (Klingende Tonart) bewusst zu machen. Transponieren gelingt am besten, wenn Sie nicht nur Töne „umrechnen“, sondern sich immer des tonalen Zusammenhangs bewusst sind und vor allem auf Ihr Gehör vertrauen.
Auch ist es sinnvoll, das Transponieren an Literatur zu üben, die Sie gut kennen. Große Meister wie Chopin und Liszt haben ihren Schülern empfohlen, größere Passagen aus Werken (gerade auch schwierige Stellen) zu transponieren. Warum wohl? Transponieren ist eine Abstraktion, und indem wir von konkreten Tonhöhen abstrahieren, treten Gestalten und Strukturen in den Vordergrund.

Übung: Spielen Sie aus bekannten Partituren die Klarinettenstimmen (B- und A-Transposition), Horn/Englisch Horn (F-Transposition), Saxophonstimmen (B- und Es-Transposition), auch in Kombination miteinander.

Übung: Spielen Sie ein Ihnen bekanntes Klavierstück in einer anderen Tonart.

III. Spielen von kleineren und größeren Partituren:

Je mehr Systeme Partituren haben, desto mehr Töne werden verdoppelt. Dass eine Partitur 20 verschiedene Instrumente aufführt, muss nicht bedeuten, dass Sie 20 verschiedene Strukturen abbilden müssen. Das Wichtigste ist, dass Sie sich einen Überblick verschaffen, bevor Sie spielen. Achten Sie darauf, welche Stimmen sich in welchen Instrumenten wiederfinden. Meistens lassen sich selbst die größten Orchesterpartituren auf 4-5stimmige Sätze reduzieren.

Übung: Spielen Sie Partituren für Streichorchester (Violin-, Alt- und Bassschlüssel), oder auch Streichquartette

Übung: Spielen Sie Partituren für Blasorchester (unterschiedliche Transpositionen), oder Bläserkammermusik

Übung: Spielen Sie Orchesterpartituren mit gemischten Besetzungen (vorzugsweise langsame Sätze!)

IV. Spielen von Chorpartituren:

Chorpartituren enthalten neben den bekannten Violin- und Altschlüsseln auch noch den oktavierenden Violinschlüssel für den Tenor. Es empfiehlt sich, von den vier Stimmen zunächst alle möglichen Stimmenkombinationen zweistimmig zu üben – den Rest möglicherweise nach Gehör und Gefühl improvisierend. Danach kann eine Chorprobe simuliert werden: es wird jeweils eine Stimme korrekt gespielt, die anderen Stimmen darum herum improvisiert.

Übung: Spielen Sie aus einer Chorpartitur (SATB) jeweils zwei Stimmen in beliebiger Kombination. Ergänzen Sie ggf. improvisierend fehlende Töne aus anderen Stimmen.

Übung: Spielen Sie, wie in einer Chorprobe gefordert, einzelnen Stimmgruppen ihre Töne korrekt vor und ergänzen Sie darum notwendige Töne oder Harmonien aus anderen Stimmen.

V. Spielen von Klavierauszügen:

Hier sei nur in aller Kürze angemerkt, dass klassische Klavierauszüge (Oper, Oratorium) in der Regel mehr Töne aufführen, als man ad hoc spielen kann. Hier ist eine Auswahl zu treffen, die der Proben- und Aufführungssituation entspricht. Bei Pop-Klavierauszügen (Songbooks, Musicals) ist es genau umgekehrt: Diese sind meist zu leicht gesetzt, dafür mit Akkordsymbolen versehen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die passende Begleitung improvisatorisch erzeugt wird.

Übung: Spielen Sie klassische Klavierauszüge und reduzieren Sie den Notentext auf das Wesentliche. Bleiben Sie immer im Tempo!

Übung: Spielen Sie Pop- oder Musical-Klavierauszüge, lassen Sie dabei die in der Klavierstimme häufig mit notierte Gesangsstimme weg und ergänzen Sie die fehlenden Strukturen der Begleitung improvisierend anhand der Akkordsymbole.

VI. Anwendung von Partiturspiel:

1) Partiturspiel – Literaturspiel:

Aus dem Blickwinkel des Partiturspiels mag es reizvoll sein, Klavierliteratur aus Originalmanuskripten zu spielen, die größtenteils in Alten Schlüsseln notiert wurde, z.B. große Teile der Werke Bachs oder z.B. des Fitzwilliam Virginal Book (eine Fülle solcher Noten findet sich auf IMSLP).

Übung: Spielen Sie Alte Klaviermusik aus Originalmanuskripten.

2) Partiturspiel – Blattspiel:

Da Partiturspiel in den meisten Fällen Blattspiel ist (nur mit mehr Systemen und zusätzlichen Transpositionen), kann es als eine höhere Form von Blattspiel angesehen werden. Es gelten aber dieselben Gesetzesmäßigkeiten und Vorschläge, die unter der Disziplin Blattspiel aufgeführt sind.

3) Partiturspiel – Improvisation:

Wie oben bereits angedeutet, kann Partiturspiel erfordern, dass a) Teile das musikalischen Materials, die nicht in Echtzeit gelesen werden können, nach Gehör ergänzt oder b) je nach den Anforderungen einer speziellen Einstudierung eine Stimme hervorgehoben und der Rest improvisatorisch ergänzt wird. So kann Partiturspiel dazu beitragen, improvisatorische Fähigkeiten zu entwickeln, ohne dass die Improvisation im Vordergrund steht.

4) Partiturspiel – Komposition:

Wer Partiturspiel geübt hat, findet möglicherweise keine große Schwierigkeit (vielleicht sogar eine Herausforderung) darin, für andere Instrumente zu schreiben, die in anderen Schlüsseln bzw. Transpositionen notiert werden müssen.

Übung: Komponieren Sie ein kurzes Stück für eine Kammermusikbesetzung, die Alte Schlüssel und Transponierende Instrumente enthält.

5) Partiturspiel – Generalbass:

In Partituren des Generalbasszeitalters finden sich oft unter den Bassstimmen die entsprechenden Bezifferungen. Hier ist es möglich, in beide Richtungen zu denken: a) aus den Bezifferungen die Stimmen abzuleiten, b) die notierten Stimmen in eine Bezifferung zusammenzufassen.

Übung: Spielen Sie aus einer barocken Partitur und realisieren Sie zuerst den Generalbass. Dann vergleichen Sie, wie die Stimmen Ihrer Aussetzung auf die in der Partitur notierten Stimmen verteilt sind.

Übung: Spielen Sie aus einer barocken Partitur die Melodiestimmen bzw. führende Stimmen und die Bassstimme und ergänzen Sie den Rest anhand der Generalbasssignaturen.

Übung: Spielen Sie aus einer Partitur, die keine Bezifferung enthält und notieren Sie sich die entsprechenden Generalbasssignaturen.

6) Partiturspiel – Leadsheet:

In Partituren aus dem Rock/Pop/Jazz-Bereich finden sich oft über den Systemen die entsprechenden Akkordsymbole. Hier ist es möglich, in beide Richtungen zu denken: a) aus den Akkordsymbolen mögliche Stimmen abzuleiten, b) die notierten Stimmen zu Akkorden zusammenzufassen.

Übung: Spielen Sie aus einer Pop-/Jazz-Partitur und achten Sie zunächst nur auf die Akkordsymbole. Dann vergleichen Sie, wie die Stimmen Ihrer Aussetzung auf die in der Partitur notierten Stimmen verteilt sind.

Übung: Spielen Sie aus einer Pop-/Jazz-Partitur die Melodiestimmen bzw. führende Stimmen und die Bassstimme und ergänzen Sie den Rest anhand der Akkordsymbole.

Übung: Spielen Sie aus einer Pop-/Jazz-Partitur, die keine Akkordsymbole enthält und notieren Sie sich die entsprechenden Akkordsymbole.

7) Partiturspiel – Audio-Transkription:

Partituren wollen nicht nur gespielt, sondern vor allem gehört werden! Zum Entwickeln des Inneren Hörens ist sehr zu empfehlen, Partituren nur zu lesen, und dabei eine innere Klangvorstellung zu entwickeln, die später mit einer Aufnahme verglichen werden kann.

Übung: Lesen Sie eine Partitur und versuchen Sie, sich das klingende Ergebnis möglichst genau vorzustellen. Danach hören Sie eine Aufnahme des Stücks an, das Sie gerade gelesen haben.

Übung: Versuchen Sie, Teile eines gehörten Stücks als Partitur zu notieren. Versuchen Sie sich dabei zuerst auf den groben formalen und harmonischen Verlauf, dann auf einzelne Instrumente zu konzentrieren. Sie können auch Akkordsymbole oder Generalbasssignaturen verwenden.

8) Partiturspiel – Arrangement:

Wenn Sie Partituren spielen, können Sie dabei üben, die einzelnen Stimmen umzuarragieren, d.h. auf verschiedene Schlüsselungen und Transpositionen zu übertragen. So kann z.B. aus einem Chorsatz ein Bläsersatz werden, oder ein Streichquartett, oder was auch immer.
Ein Klavierauszug eines Orchester- oder Ensemblewerks kann auch als Arrangement für Klavier angesehen werden.

Übung: Notieren Sie die wichtigsten Stimmen aus einer Partitur für eine andere Besetzung unter Verwendung von Alten Schlüsseln und Transpositionen.

Übung: Erstellen Sie einen Klavierauszug von einer Ihnen bekannten Orchesterpartitur.

9) PARTITURSPIEL – ENSEMBLESPIEL:

Da Partituren immer für Ensembles geschrieben sind, ist es sinnvoll, sie auch im Miteinander zu spielen, z.B. im Klavierduo oder an einem Klavier, das einem Dirigenten folgt. Ein gemeinsames Tempo ist die Grundvoraussetzung des gemeinsamen Musizierens. Daher wird das Partiturspiel die Pianisten nicht nur mit Ensembleerfahrungen unterschiedlichster Art vertraut machen, sondern ihnen auch eine wesentliche Entscheidung abverlangen: nämlich dem Vorrang des gemeinsamen Rhythmus vor den „richtigen Tönen“.

Falls Sie noch keine dirigentische Erfahrung haben: Es lohnt sich auf jeden Fall, sich mit den wichtigsten Schlagfiguren auseinanderzusetzen und berühmten Dirigenten bei der Arbeit zuzuschauen. Sie können aber auch ohne jede Vorkenntnis einen Versuch wagen: letztlich geht es darum, dass Sie Bewegungen finden, die Ihren musikalischen Vorstellungen Ausdruck verleihen.

Übung: Spielen Sie Partituren im Duo und teilen Sie die Parts untereinander auf. Bleiben Sie stets im Tempo und stören Sie sich nicht an falschen Tönen!

Übung: Spielen Sie Partituren nach Dirigat. Dirigieren Sie selbst.

ENSEMBLESPIEL

Über die Freude des gemeinsamen Musizieren, ob im Kammermusikensemble oder im Orchester, muss hier nichts extra gesagt werden, außer dass Ensemblespiel in der beruflichen Ausbildung von Pianisten einen eher geringen Stellenwert hat und es wünschenswert wäre, dies zu ändern. Es beginnt schon oft mit der Unterrichtssituation, in welcher der Studierende meist alleine spielt und die Lehrperson aus dem Abseits kommentiert. Ich möchte hier ein Konzept vorschlagen, dass sich an Musikschulen und in der Schulmusik leicht umsetzen lässt (bzw. dort bereits in Teilen existiert) und über dessen Anwendung in der Hochschulausbildung nachzudenken wäre.

DER IMPROVISIERENDE LEHRER

(Fortsetzung folgt)