LITERATURSPIEL UND BLATTSPIEL

Literaturspiel und Blattspiel stellen einander ergänzende Zugänge zum Repertoire dar. Das ist insofern von Bedeutung, als gerade die Klavierliteratur so umfangreich ist (und ständig in ihrem Umfang zunimmt), dass es niemandem zu Lebzeiten vergönnt sein wird, auch nur einen Bruchteil davon unter die Finger zu bekommen.

Nun gibt es mehrere Strategien, sich damit abzufinden: Man könnte sich sich darauf beschränken, das Standardrepertoire zu spielen – den seit Jahrhunderten bewährten Kanon aus Werken der großen Meister, die ohnehin landauf landab auf jedem Festivalprogramm stehen. Dies scheint die Strategie der großen Mehrheit zu sein, was dazu führt, dass eine global wachsende Anzahl von PianistInnen dasselbe schmale Kernrepertoire spielt und auf diese Weise ein immer unerbittlicherer Wettbewerb entsteht. Warum sich freiwillig diesem aussetzen, wenn es doch andere Möglichkeiten gibt?

Anstatt der Praxis von Musikwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts zu folgen, welche die Werke Bachs und Beethovens zu Heiligtümern erklärten, könnte man sich ja auch selber fragen: Was ist mir heilig? Falls sich diese Frage überhaupt abschließend beantworten lässt, wird die Antwort bei vielen PianistInnen vermutlich immer wieder ganz unterschiedlich ausfallen.

Hier ist die gute Nachricht: Es ist genug Musik für alle da! Wir müssen uns nicht prügeln um die wenigen Werke, die uns allen lieb und teuer sind. Statt dessen können wir versuchen, unseren musikalischen Horizont um all jenes zu erweitern, was seit dem vorvergangenen Jahrhundert alles Bereicherndes hinzugekommen ist.

Da wäre z.B. die ganze außereuropäische Klaviermusik: aus (Ost-) Asien, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Afrika (!). Wer dieses Repertoire im Gegensatz zur Klavierliteratur Europas für minderwertig hält, etwa weil es später hinzugekommen ist und noch gewisser „Entwicklung“ bedürfe, sollte genauer hinschauen: Vieles, was die musikalische Südhalbkugel liefert, ist in rhythmischer Hinsicht außerordentlich differenziert, und manches so „groovy“, dass man dazu tanzen möchte. Asiatische Musik verfügt über eine ganz eigene Zeitgestaltung, reiche Ornamentik und lädt mitunter zum spirituellen Erleben weniger Töne ein.

Wer in dieser Musik bestimmte harmonische Raffinesse vermisst, tut dies natürlich aus der Perspektive „westlicher“ Musik, deren Domäne die Harmonik ist. Dies offenbart zugleich ein geringes Maß an Offenheit gegenüber andersartigen Musikerfahrungen. Möglicherweise hat ein solches Denken auch Entwicklungen in der Neuen Musik nicht zur Kenntnis genommen, welche uns die prinzipielle Gleichberechtigung aller musikalischer Parameter beschert hat.

Apropos Neue Musik: Auch seit dem Krieg ist viel Bereicherndes hinzugekommen. Manches davon hat es nicht geschafft, die Gunst des Publikums dauerhaft zu erobern, aber auch die Avantgarde war nicht frei von Moden, und so ist es denkbar, dass manche dieser Werke „ihre Zeit“ noch haben werden und eine zweite Chance erhalten.

Mittlerweile befinden wir uns im 21. Jahrhundert. Wer kennt Klavierwerke, die im 21. Jahrhundert komponiert wurden? Die Komponisten, die sie geschrieben haben? Die leben nämlich (fast) alle noch – man kann sie treffen, mit ihnen zusammenarbeiten, sich sogar Werke auf den Leib schreiben lassen. Manche Komponisten schreiben für ihre Interpreten. Diese Chance sollte sich keiner entgehen lassen.

Und wenn man schon so weit ist, kann man als pianiste-compositeur des 21. Jahrhunderts auch gleich seine eigenen Stücke aufführen – im Jazz ist das übrigens völlig normal und eher ungewöhnlich, das nicht zu tun.

Wenn eine Renaissance von Werken der Neuen Musik, die sich aufgrund von modischen oder ideologischen Einschränkungen nicht durchsetzen konnten, möglich ist, kann dies genauso für die klassisch-romantische, die Alte und frühmoderne Klaviermusik gelten. Auch hier gibt es eine Fülle zu Unrecht vergessener (oder nie bekannt gewordener) Klavierwerke, die es verdient hätten, wiederentdeckt und wiederaufgeführt zu werden. Für diese Art von Klaviermusik setzt sich seit über 30 Jahren Peter Froundjian mit seinem Festival Raritäten der Klaviermusik ein.

Dies kann eine dankbare Aufgabe und eine Chance wiederum für den Spieler sein. Denn so kann jeder Pianist, der auf sich hält, sein ganz persönliches und individuelles Repertoire pflegen. Manche haben sich auf diese Weise bereits ein Alleinstellungsmerkmal verschafft.

Nötig ist dazu zunächst nur eins: Neugier. Ständig auf der Suche sein, viel hören, viel lesen und viel spielen. Es gibt vieles zu entdecken, und man muss ja nicht gleich alles studieren.

Und hier kommt die m.E. wichtigste aller pianistischen Fertigkeiten zum Zuge: das Blattspiel.

Wenn man ein guter Blattspieler ist, hat man Zugang zu einer Fülle von Klavierliteratur, die einem sonst verschlossen bliebe. Man ist auch nicht angewiesen darauf, Aufnahmen im Internet zu hören, sondern kann die Musik unter den eigenen Händen spüren.

Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber: Blattspielen lernt man durch Blattspielen. Wer viele und vielfältige Werke vom Blatt liest, erkennt schnell, wenn ähnliche Strukturen in anderen Werken auftauchen. Und selbst bei der schieren Masse an Tönen, die Pianisten zu bewältigen haben, lässt sich das Meiste auf redundante Muster reduzieren.

So möchte ich empfehlen, wenn man z.B. ein Haydn-Sonate studiert, mindestens zwei oder drei weitere Haydn-Sonaten vom Blatt zu spielen. Es könnte ja sein, dass die Fragen, die sich in einem studierten Werk ergeben, durch ein anderes beantwortet werden.

An dieser Stelle sei auf einen entscheidenden Zusammenhang zwischen den Disziplinen Literaturspiel und Blattspiel hingewiesen: Erstere sucht die Tiefe: und es ist dringend zu raten, sich nicht nur lange, eindringlich und persönlich mit einem einzelnen Werk auseinanderzusetzen, sondern auch möglichst viel über dessen Umfeld (historisch, geistig, kulturell) in Erfahrung zu bringen. Das andere zielt in die Breite, besser noch in die Weite: Je weiter der musikalische Horizont, desto mehr kann das einzelne Werk zum Meilenstein werden auf der eigenen Suche nach der höchsten Klangkultur, dem tiefsten Ausdruck und vielem mehr. Gleichzeitig lässt sich immerhin ein gewisser Überblick über die unüberschaubare Fülle der Literatur behalten, auf dessen Grundlage kluge Repertoireentscheidungen getroffen werden können. Aus der Perspektive der Gegenwart des globalen 21. Jahrhunderts gibt es viel zu entdecken.

Somit können wir Folgendes vorschlagen: der Tiefe des Werkstudiums (Literaturspiel) ist die Breite und Weite des Prima Vista-Spiels gleichberechtigt gegenüberzustellen. Ich plädiere für ein Bewusstsein, welche Gewichtung Literatur- und Blattspiel in der pianistischen Ausbildung einzunehmen hätten. Selbst wenn sich der Hauptfachunterricht ausschließlich dem Werkstudium mit Tiefgang widmen möchte, daheim aber Blattspiel ausgiebig gepflegt wird, wäre einiges gewonnen.

Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass sich für die Prima-Vista-Virtuosen zusätzliche berufliche Perspektiven eröffnen: Auf dem freien Musikmarkt gibt es eine Fülle von Jobs, bei denen gleichzeitig schnell und hochwertig einstudiert werden muss, z.B. im Bereich der Korrepetitoren, am Theater, bei Orchesterpianisten, bei Einspringer-Tätigkeiten oder bei privaten Anfragen aller Art, zu denen nur jener Zugang hat, der souverän vom Blatt spielt und gleichzeitig tiefgründig und aussagekräftig musizieren kann.

 

BLATTSPIEL

I. Blattspiel-Prinzipien

Eine wichtige Bemerkung voraus: Blattspielen ist nicht Üben! Vielmehr stellen beide unterschiedliche Modi im Zugang zu musikalischen Werken dar. Damit diese nicht verwechselt werden, sind beim Blattspiel vor allem zwei Dinge zu beachten:

1) Vogelperspektive vor Froschperspektive: Wenn man ein unbekanntes Werk vom Blatt spielt, ist es wichtig, so schnell wie möglich einen Überblick zu gewinnen. Dann erkennt man Muster, Wiederholungen, Ähnlichkeiten – alles, was sich zusammenfassen lässt und den Leseaufwand reduziert. Diesen Überblick sollte man sich – wenn möglich – vor Spielbeginn verschaffen. Während des Spielens möge man versuchen, stets vorausschauend zu spielen.

2) Tempo vor Genauigkeit: Hier liegt der wesentliche Unterschied zum Üben: Das Tempo beim Blattspiel sollte a) auf keinen Fall schwanken und b) so nah wie möglich am Originaltempo sein. Warum? Weil unterhalb einer bestimmten Tempogrenze das Gefühl für die Metrik verloren geht (man empfindet dann z.B. in Achteln statt in Vierteln) und harmonische Verläufe nicht mehr nachvollziehbar sind (z.B. eine Dissonanz auf leichter Zeit plötzlich schwer und damit falsch klingt). Im Gegensatz zum Üben, wo es natürlich auf Genauigkeit ankommt, müssen hier Abstriche in Kauf genommen werden.

3) Der Blick für das Wesentliche: Wenn man im Tempo nicht alle Noten realisieren kann, kommt es darauf an, welche weggelassen werden können, ohne die Gestalt der Musik zu verändern. Es gilt, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was im Tonsatz unverzichtbar ist und was nicht. Im Idealfall wird auf einiges verzichtet, ohne dass es überhaupt auffällt. Dann könnte man sagen: „Pfuschen ist Kunst“.

4) Blick für Handpositionen und Fingersätze: Es ist bekannt, dass man sich durch einen guten Fingersatz das Spiel erheblich erleichtern (und mit einem schlechten entsprechend erschweren) kann. Beim Blattspiel ist dafür zwar keine Zeit, sich Gedanken über Fingersätze zu machen, aber es ist notwendig und hilfreich, Positionswechsel vorauszusehen und nach der günstigsten Handposition zu suchen.

5) Vereinbarkeit von Lese- und Spielgeschwindigkeit: Wie kann Blattspiel zielführend geübt werden? Indem man vor allem übt, die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen. Dies kann auch fern vom Klavier anhand der Noten geübt werden. Je günstiger das Verhältnis zwischen Lese- und Spielgeschwindigkeit, desto größer ist der Lesepuffer und desto geringer die Gefahr, ins Stocken zu geraten. Wenn das nicht der Fall ist, kann übergangsweise die Spielgeschwindigkeit etwas gesenkt werden.

6) Mentale Vorbereitung: Zum erfolgreichen Blattspielen braucht man Mut und eine gewisse Abgebrühtheit – man darf sich mit Fehlern nicht groß aufhalten und sich vor allem nichts anmerken lassen.

Blattspielen ist nicht Üben. Sondern so zu tun, als hätte man geübt“ (C.N.)

Geeignetes Repertoire zum Blattspielen: Zu Beginn unbedingt leichtere bzw. übersichtliche Stücke, die sich in vollem Tempo realisieren lassen.

 

II. Anwendungen für Blattspiel:

1) Blattspiel – Improvisation:

Zunächst enthält jeder Blattspielversuch ein improvisatorisches Moment, da das, was nicht ad hoc realisiert werden kann, kaschiert werden muss. In diesem Sinn kann der Versuch, Musik möglichst unauffällig vom Blatt zu spielen, als Schulung improvisatorischer Tugenden genutzt werden: Begleitungen können z.B. improvisiert werden anstatt sie wörtlich zu spielen. In jedem Fall ist aufs Neue zu entscheiden, welche Anteile des prima vista zu spielenden Stücks notengetreu gespielt und welche frei ergänzt werden. Dies kann auch bewusst geübt werden, indem absichtsvoll am Notentext vorbei oder über diesen hinaus improvisiert wird.

a) ungefähr spielen – nach flüchtigem Blick auf die Partitur etwas Ähnliches improvisieren
b) Annäherung: notengetreues Spiel wesentlicher Teile und improvisatorische Ergänzung nicht wesentlicher Teile
c) Dazuerfinden: Improvisieren Sie über den Notentext hinaus

 

2) Blattspiel – Komposition:

Das Phänomen Blattspiel ist mit notwendiger Unschärfe behaftet, welche ein aleatorisches Moment in eine Komposition bringen kann – diese erklingt immer anders, weil immer andere Ausschnitte realisiert werden können.
Manche Komponisten fordern ganz bewusst den Verzicht auf Perfektion (Stockhausen: „Probe nicht“), um andere Qualitäten der Interpreten hervorzubringen.
Und selbstverständlich kann das Blattspielen als Analysewerkzeug dienen – sofern man prima vista versucht, die kompositorische Idee zu erfassen.

a) Konzeption einer Komposition, die eine Blattspielaufgabe enthält.
b) Spielen Sie Kompositionen vom Blatt und versuchen Sie dabei, die kompositorische Idee zu erfassen.

 

3) Blattspiel – Generalbass/Partimento:

Generalbass/Partimento stellt einen Sonderfall des Blattspiels dar: Wörtlich zu spielen ist nur die notierte Bassstimme, der Rest wird nach Regeln improvisiert. In diesem Sinne könnte man Generalbass/Partimento als Vereinfachung des prima vista zu spielenden Stücks verstehen, aber auch als dessen Gegenbewegung: während beim Blattspiel ausnotierte Musik spontan vereinfacht wird, wird aus dem vereinfachten Generalbass/Partimento ausformuliert.

a) Spielen Sie einzelne Generalbässe vom Blatt und hören Sie innerlich die zugrunde liegenden Harmonien.
b) Ergänzen Sie Harmonien und Auszierungen.
c) Reduzieren Sie ausnotierte Musik auf deren Generalbass.

 

4) Blattspiel – Leadsheet-Notation:

Ähnlich dem Generalbass/Partimento stellt Spielen nach Akkordsymbol eine andere Möglichkeit der Vereinfachung dar: Wörtlich zu spielen ist nur die Melodiestimme (ggf. nicht einmal diese), die Begleitung wird nach Akkorden improvisiert. Auch hier gilt: während beim Blattspiel aus der Notation notwendigerweise vereinfacht wird, wird beim Spielen aus den vereinfachten Akkordsymbolen ausformuliert.

a) Spielen Sie Melodien aus Leadsheets vom Blatt und hören Sie innerlich die Harmonik
b) Ergänzen Sie die Begleitung und Auszierung
c) Reduzieren Sie ausnotierte Musik auf deren Akkordstruktur.

 

5) Blattspiel – Audio-Transkription:

Eigentlich schließen sich das Erfassen von Musik durch Noten oder nach Gehör aus. Es wäre jedoch möglich (und reizvoll), beide Arten der Musikaneignung wechselseitig und gleichzeitig zu üben, z.B. indem man zu zweit ein Stück übt, wobei der eine anhand von Noten spielt (vom Blatt) und der andere versucht, nach Gehör nachzuspielen (eine Art „Stille Post“). Eine andere Möglichkeit wäre, eine Aufnahme nachzuspielen (oder gleich mitzuspielen) und dazu z.B. ein Leadsheet (oder Chord Sheet) als Hilfsmittel zu nehmen.

In jedem Fall wird an dieser Stelle dafür plädiert, dem Spielen nach Noten und nach Gehör gleichen Rang einzuräumen.

a) Spielen Sie zu zweit abwechselnd ein Stück, wobei der eine vom Blatt spielt und der andere nach Gehör nachspielt.
b) Spielen Sie nach oder mit einer Aufnahme unter Zuhilfenahme eines Leadsheets oder Chord Sheets.

 

6) Blattspiel – Arrangement:

Das Blattspiel kann als Analysewerkzeug dienen, um Methoden des Arrangements (Satztechnik) zu erfassen. Eine anspruchsvollere Übung könnte das Prima vista-(Um-)Arrangieren sein.

a) Spielen Sie ein Stück und versuchen Sie, die Satztechnik/das Arrangement zu erfassen.
b) Spielen Sie ein Stück vom Blatt und versuchen Sie, vom Blatt das Arrangement/die Satztechnik zu variieren.
c) Spielen Sie ein 4händiges Stück mit zwei Händen vom Blatt (ein 2händiges mit einer Hand).

 

7) Blattspiel – Partiturspiel:

Das Partiturspiel stellt einen anspruchsvollen Sonderfall des Blattspiels dar – zum Erfassen des Notentexts kommt noch die Übertragung in Transpositionen und andere Schlüsselungen dazu, zudem steigt die Anzahl der zu verarbeitenden Systeme. Diese drei Erschwernisse sollten zunächst einzeln, dann in Kombinationen geübt werden.

a) Spielen Sie ein Stück vom Blatt und transponieren Sie es prima vista.
b) Spielen Sie ein Stück aus einem C-Schlüssel vom Blatt (z.B. Alfred Stenger: Partiturspiel leichtgemacht).
c) Spielen Sie ein Stück aus mehreren Systemen vom Blatt.

 

8) Blattspiel – Ensemblespiel:

Hier geht es darum, 4händige Literatur (oder für 2 Klaviere) vom Blatt zu spielen. Die wichtigste Lernerfahrung hierbei könnte sein, dass es nicht so sehr darauf ankommt, ob der Notentext vollständig realisiert wird, sondern vielmehr, dass der musikalische Fluss niemals unterbrochen wird. Es kann auch nach Dirigat gespielt werden.

a) Spielen Sie Originalliteratur oder Bearbeitungen vierhändig und/oder an zwei Klavieren
b) Spielen Sie Bearbeitungen von Orchesterliteratur nach Dirigat.

 

9) BLATTSPIEL – LITERATURSPIEL:

* Allgemein empfiehlt sich, eine große Breite von Literatur zum Blattspielüben zu nutzen, nach dem Motto: Je mehr man kennt, desto mehr hilft dieser Wissenshintergrund beim schnellen Erfassen neuen Materials.

* Blattspielfähigkeiten prägen des ersten Eindruck eines neuen Werks, das spontane Erfassen von musikalischen Phänomenen stellt den individuellen Zugang zum Werk her (bei aller Gefahr einer Reduktion).

* Blattspielen bietet auch die Möglichkeit, das Umfeld eines studierten Werks weiträumig zu erschließen (etwa bei zyklischen Werken, beim Vergleich mit Früh- oder Spätwerken desselben Komponisten, oder beim Vergleich mit anderen Zeitgenossen).

* Letztlich bietet Blattspiel die Möglichkeit zur Erschließung eines breiten Repertoires (aus allen Zeiten, allen Orten!).

a) Spielen Sie möglichst viel unterschiedliche Literatur (alle Zeiten, alle Orte!)
b) Spielen Sie Werke aus dem Umfeld der Literatur, die Sie studieren (z.B. andere Werke derselben Gattung desselben Komponisten).
c) Spielen Sie Werke von anderen zeitgenössischen Komponisten.

Im Vorfeld der Besprechung des Literaturspiels sei bereits darauf hingewiesen, dass der erste Zugriff auf ein Literaturstück bei einer Neueinstudierung stets das erste Spielen vom Blatt ist. Doch wie geht es von hier aus weiter?

 

LITERATURSPIEL

I. Anregungen zum Literaturspiel:

1) Breite und Tiefe des Repertoires: Hierzu ist im Vorwort schon einiges gesagt worden. Zusätzlich zu der Feststellung, welche Arten und Stile von Musik seit Mitte des 20. Jahrhunderts hinzugekommen sind (Neue Musik, Popularmusik, Weltmusik), kann noch allgemeiner gesagt werden:

Das Repertoire umfasst alle Zeiten (Geschichte und Gegenwart) und alle Orte (Europa und die Globale Welt).

2) Konzept der Gegenwartsmusik: Eine Besonderheit ist die Auseinandersetzung mit der Musik der Gegenwart, die immer noch von tief sitzenden ideologischen Gräben durchzogen wird. Hier unser Versuch einer versöhnlichen Definition von Gegenwartsmusik:

Gegenwartsmusik = Musik, die in ästhetischer Reflexion der Gegenwart komponiert, produziert und improvisiert wird.“ (Helmut Lörscher und Christian Nagel)

3) Differenzielles Üben: Im Folgenden werden Statements von Prof. Wolfgang Schöllhorn zitiert, die dieser bei seinem Keynote-Vortrag auf dem 1. Kongress des Landes- und Forschungszentrums der MH Freiburg geäußert hat – mit Kommentaren und Ergänzungen meinerseits:

* „Wiederholung verhindert effektives Lernen
– Gehirnaktivität nimmt bei Wiederholen ab (mehr als 3 Wiederholungen werden kaum noch wahrgenommen) – chaotisches Lernen dagegen aktiviert das ganze Gehirn (dies entspricht der Gehirnaktivität von Mönchen bei intensiver Meditation).
– Kinder lernen nicht über Einschleifen, sie probieren immer wieder etwas Neues. Am meisten lernt das Kind im Alter von bis zu 2 Jahren, wo es noch nicht gehorcht! Es wechselt schnell und dauernd das Thema.
– exakte Wiederholung ist nicht möglich, es gibt immer Schwankungen

* „Es gibt keine Fehler, nur Schwankungen
– Der negative Begriff des Fehlers ist durch den neutralen Begriff der Schwankung zu ersetzen.
– Differenzielles Lernen bietet zusätzliche Informationen. (Keine Wiederholung! Keine Korrekturen!)
– Mit jedem Durchgang wird der Lösungsraum erweitert – vor allem dessen Grenzen.
– Systemdynamik: im stabilen Zustand brauche ich viel mehr Energie, um in den nächsten Zustand zu kommen, im instabilen Zustand ist das viel leichter. Das bedeutet: Lernen=instabil machen!

* „Lernen ist das, was nach der Erziehung stattfindet
– das eigentliche Lernen findet in den Pausen statt.
– mentales Training nach dem Training (z.B. Videoanalyse) führt zum Leistungsabfall.

* „Lernen ist individuell und situativ
– Wir brauchen Rückmeldungen nur dann, wenn wir etwas nicht selber spüren!

Einige Ergänzungen aus der Lektüre von Martin Widmaier: Zur Systemdynamik des Übens:

* „Differenzielles Üben ist improvisierendes Üben … und Improvisieren Üben !
* „Automatisieren ist für Improvisation untauglich
* „Wer Musik übt, muss musizieren!

4) Das Pareto Prinzip – auch bekannt als 80/20-Regel: Sie besagt, dass wir oft schon mit 20% des Einsatzes 80% des angepeilten Ergebnisses erreichen. Auf das Üben angewandt: Was muss überhaupt geübt werden? Und wo lässt sich hier Zeit sparen?
* Identifizieren Sie wirklich relevante Teilaufgaben (was ist wirklich wichtig?)
* Konzentrieren Sie Ihren Arbeitseinsatz (nicht alles gleichzeitig erledigen)
* Akzeptieren Sie begrenzte Ressourcen (wieviel Zeit steht mir zur Verfügung?)

 

II. Anwendungen für Literaturspiel:

1) LITERATURSPIEL – BLATTSPIEL:

Allgemein empfiehlt sich, eine große Breite von Literatur zum Blattspielüben zu nutzen, nach dem Motto: Je mehr man kennt, desto mehr hilft dieser Wissenshintergrund beim schnellen Erfassen neuen Materials. Möglichst ist auch das parallele Blattspielen ähnlicher Werke.

a) Spielen Sie möglichst viel unterschiedliche Literatur vom Blatt.
b) Spielen Sie Werke aus dem Umfeld der Literatur, die Sie studieren.

 

2) Literaturspiel – Improvisation:

Viele Stücke enthalten Improvisationen, sind auskomponierte Improvisationen oder bieten Gelegenheit zur Improvisation:

a) Spielen Sie auskomponierte Improvisationen / Auszierungen und variieren Sie auf deren Grundlage.
b) Improvisieren Sie über ein Pattern / eine Kadenz aus einem Stück.
c) „Steigen Sie aus“ und phantasieren Sie frei weiter.
d) Entwickeln Sie einen Aspekt des Stücks improvisatorisch weiter
e) Versuchen Sie, einen Teil des Stücks zu normalisieren (z.B. Taktgruppen zu begradigen, Harmonik zu vereinfachen, jegliche Besonderheit reduzieren)
f) Spielen Sie auf einer Fermate eine Kadenz bzw. einen Einschub.
g) Versuchen Sie, das Musikstück stilistisch zu transformieren.

 

3) Literaturspiel – Komposition:

Das studierte Werk kann zur Grundlage einer neuen Komposition werden. Dabei kann das ganze Stück (oder nur ein Teil oder Aspekt) in einen anderen Stil transformiert werden, es kann ein ähnliches Stück neu komponiert werden (Stilkopie), es kann auch ein Zitat aus dem Werk im Rahmen eines neuen Stücks verwendet werden.

a) Skizzieren Sie eine Komposition auf der Grundlage des studierten Werkes als Stilkopie.
b) Verwenden Sie einen Ausschnitt des Werks als Zitat innerhalb einer Komposition.
c) Ein Materialaspekt wird zur Grundlage eines neuen Stücks.
d) Komponieren Sie das Material des Werks in einem anderen Stil.

 

4) Literaturspiel – Generalbass/Partimento:

Das studierte Werk kann anhand des zugrunde liegenden Generalbasses analysiert und beziffert werden. Von dem Stück lässt sich auch ein Partimento anfertigen.

a) Notieren Sie Generalbasssignaturen in das Werk.
b) Erstellen Sie ein Partimento von dem Stück.

 

5) Literaturspiel – Leadsheet-Notation:

Das studierte Werk kann anhand der zugrunde liegenden Harmonik analysiert und mit Akkordsymbolen versehen werden. Von dem Stück lässt sich auch ein Leadsheet anfertigen.

a) Notieren Sie die Akkordsymbole in das Werk.
b) Erstellen Sie ein Leadsheet von dem Stück.

 

6) Literaturspiel – Audio-Transkription:

Geeignete Ausschnitte von Literatur können aufgrund für Gehörbildung geeignete Intervall- oder Harmoniestrukturen für Gehörbildung ausgewählt werden, z.B. indem man sich gegenseitig vor- und nachspielt.
Es kann auch Literatur ausschließlich nach dem Gehör einstudiert werden (nicht nur in der Popmusik)!

a) Gehörbildung anhand von Klavierliteratur durch gegenseitiges Vor- und Nachspielen geeigneter Stellen
b) Einstudierung von Literatur nur nach dem Gehör

 

7) Literaturspiel – Arrangement:

Analysieren von hervorragenden Arrangements aus der Literatur, dann eigenes Einrichten von Literaturstellen z.B. für die L.H. allein oder 4hdg., sowie Umarrangieren der Stimmen. Wünschenswert ist auch die Skizzierung von „virtuosen“ Transkriptionen von Liedern oder Songs.

a) Analysieren Sie herausragende Arrangements aus der Literatur.
b) Arrangieren Sie Werke für die L.H. allein, 4hdg, oder 2 Klaviere.
c) Arrangieren Sie Werke um, z.B. durch Stimmentausch.
d) Skizzieren Sie „virtuose“ Transkription von Liedern oder Songs.

 

8) Literaturspiel – Partiturspiel:

Anhand bekannter Literatur lässt sich das Transponieren in verschiedene Tonarten üben (dies haben z.B. Chopin und Liszt ihren Schülern immer wieder empfohlen), auch das Notieren in anderen Schlüsselungen und Transpositionen (Stenger-Methode). Sie können auch alte Musik in ihren Original-Schlüsselungen spielen.

a) Transponieren Sie Literaturausschnitte in alle Tonarten.
b) Notieren Sie Stellen in Transpositionen und anderen Schlüsseln.
c) Spielen Sie alte Musik in Original-Schlüsseln.

 

9) Literaturspiel – Ensemblespiel:

Es kann ein breites Repertoire von 4händigen Werken oder Werken für 2 Klaviere studiert werden, auch Bearbeitungen von Orchesterliteratur, zu der dirigiert werden kann. Es lassen sich auch mehrstimmige Fugen an zwei Klavieren aufgeteilt spielen.

a) Spielen Sie Originalliteratur für Klavier 4hdg. oder 2 Klaviere.
b) Spielen Sie Orchesterwerke für 2 Klaviere, nach Dirigat, dirigieren Sie selbst.
c) Spielen Sie mehrstimmige Fugen und teilen Sie die Parts unter mehreren Spielern auf.

 

WEITERE ANWENDUNGSMÖGLICHKEITEN

* Integration von grundlegenden Übungen in Literaturspiel und Blattspiel in die tägliche Praxis:
– Tägliche Blattspielübungen
– Kennenlernen neuer Literatur
– Ergänzendes Blattspiel von Werken aus dem Umfeld des eigenen Repertoires

* Differenzielles Üben:
– Entwicklung neuer Methoden und Übetechniken

* Gegenwartsmusik:
– Suche nach aktuellen Stilen und Strömungen in der Musikszene
– Nachdenken über Komposition, Improvisation und Produktionaspekte aktueller Musik

* Anwendung der beschriebenen Übungen auf aktuell studierte Werke

* Entwicklung weiterer Methoden und Verknüpfungen der Disziplinen