GENERALBASS/PARTIMENTO UND AKKORDSYMBOLE/LEADSHEET-NOTATION
Stellen wir uns vor: aus einer unwiederholbaren Musiziersituation entsteht ein musikalischer Moment, den man gerne festhalten würde, aber es fehlt die Zeit, alles exakt zu notieren, und man möchte jedem die Gelegenheit geben, zu diesem musikalischen Moment etwas beizutragen….
Generalbass und Akkordschrift sind die zwei musikalischen Weltsprachen. Mit der ersten, der Generalbass-Notation, können wir uns in der historischen Musik seit der Barockzeit verständigen, mit der zweiten, der Akkordschrift, wird aktuell und weltweit musiziert. Ein Pianist, der beide Sprachen beherrscht, kann also überall mitreden.
Über die Generalbass-Notation verständigte sich in der Barockzeit die gesamte (europäische) Musikwelt, und dies tut sie in der historischen Aufführungspraxis noch immer. Die Ziffern waren eine praktische Kurzschrift, um harmonische Fortschreitungen zu beschreiben, ohne gleich alles ausnotieren zu müssen, was den Spielern über dem gemeinsamen Bass größtmögliche Freiheit ließ.
Dem Generalbass engstens verwandt ist die neapolitanische Tradition des Partimento – der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Partimentospieler sich darin üben, die harmonischen Verläufe so zu verinnerlichen, dass sie weitgehend ohne Bezifferungen auskommen.
Während die Generalbasslehre bis zum Ende des 19.Jh. ein selbstverständlicher Bestandteil der Ausbildung der pianistes-compositeurs am Pariser Conservatoire war, hat sie hierzulande im 20.Jh. eine Art Schattendasein im musiktheoretischen Bereich geführt und wird erst kürzlich als lebendige Praxis wiederentdeckt.
Wo man im Generalbass eine Bassstimme beziffert, geht die moderne Tradition des Leadsheets den umgekehrten Weg: es wird eine Melodiestimme notiert und die dazu gehörige Harmonien werden mit Akkordsymbolen dargestellt. Dies gibt dem Spieler die Freiheit, seine Begleitung frei zu erfinden.
Die Akkordschrift ist etwa seit Mitte des 20.Jh. in Gebrauch und erfreut sich eines breiten Anwendungsgebiets im Popularmusikbereich. Durch die Globalisierung und das Internet ist die Musikwelt ziemlich klein geworden (oder ziemlich groß – wie man es nimmt), und das System der internationalen Akkordschrift hat sich weltweit verbreitet. So wird es – wenn auch mit gewissen Abweichungen in der Schreibweise – inzwischen in den meisten Musikkulturen verwendet.
Auch hier gibt es eine Tradition, in der auf Bezifferungen/Symbole verzichtet wird: die des klassischen Volkslieds, das zwar heute auch meistens mit Akkordsymbolen bezeichnet wird, sich aber viel besser nach dem Prinzip der zweiten Stimme harmonisieren lässt – mehr dazu an anderer Stelle.
Beide Notations-Systeme, der bezifferte (oder unbezifferte) Bass und die mit (oder ohne) Akkordsymbole notierte Melodie können sich wunderbar ergänzen. Verzichtet man auf das übliche Denken in Schubladen – Generalbass gehört in den historischen und gelehrten Bereich, Akkordschrift eher in die Popmusik und den Amateurbereich – lassen sich beide Systeme mit großem Gewinn anwenden.
Durch das Spielen aus Generalbässen lernt man, Harmonien vom Bass aus zu denken, das Spielen von Leadsheets schult die Vorstellung passender Harmonisierungen und Begleitmuster zu einer Melodiestimme. Wer beide Notationsarten beherrscht und zudem in der Lage ist, Stufen-Bezeichnungen mitzudenken, kann das harmonische Geschehen quasi aus drei Blickwinkeln erfassen.
Es soll hier der Versuch unternommen werden, beide Schriftarten parallel (und stilübergreifend) zu verwenden und fähig zu werden, zwischen beiden hin- und herzuschalten.
Sind beide Kurzschriften sicher beherrscht, kann darauf verzichtet werden, wie im Partimento bzw. im traditionellen Volkslied. Das ist anspruchsvoller, aber auch kreativer, denn die Harmonien werden nicht mehr nach Vorgaben umgesetzt (oder gar berechnet), sondern das harmonische Vorstellungsvermögen der Spieler wird gefordert und geschult. Schließlich sind meistens mehrere Lösungen der Harmonisierung denkbar, und es ist reizvoll, möglichst viele davon – auch die abwegigen – auszuprobieren.
Ich war vor einigen Jahren einmal ziemlich überrascht, als ich lernte, dass Schüler in der neapolitanischen Partimento-Tradition täglich mehrere Stunden in Gesang ausgebildet wurden und nur etwa eine halbe Stunde pro Tag am Tasteninstrument verbringen konnten. Heute sind wir als Pianisten geneigt, in Griffen zu denken anstatt in Stimmen. Sollten wir vielleicht mehr singen?
Dies ist insofern von Bedeutung, als dass sich weder aus den Generalbass-Ziffern noch aus den Akkordsymbolen die Stimmführung direkt ablesen lässt – sie muss zwischen den Zeilen gelesen werden. In dem Moment, wo man ohne Ziffern oder Akkorde klarkommen muss, fragt man sich vielleicht zum ersten Mal nicht mehr: Welche Harmonie kommt jetzt? Wie greife ich die? Sondern: Wie bewegen sich die Stimmen? Wie ist es am gesanglichsten? Wenn es dem Spieler gelingt, so zu denken, klingt die Stimmführung ganz natürlich, denn sie gehorcht dem Grundgesetz der Stimmführung: dem Gesetz des kürzesten Wegs. Die Harmonien folgen einfach der Stimmführung – und ergeben sich wie von selbst.
Vielleicht lässt sich dies alles in folgender griffiger Formel zusammenfassen: Harmonik ist Kontrapunkt.
Wichtig: Alles, was ich hier vorschlage, ist aus praktischen Gründen grob vereinfacht und wird einer strengen musikwissenschaftlichen oder -theoretischen Kontrolle nicht standhalten. Aus eigener Erfahrung weiß ich jedoch, dass alles, was mit allzu großer Genauigkeit ausgearbeitet wird, auch immer zu lange dauert. Als Spieler und Improvisatoren geht es uns immer darum, Musik in Echtzeit zu machen.
Improvisation ist Hochgeschwindigkeits-Tonsatz. Wir können nicht in der Geschwindigkeit denken, in der wir spielen – das ist rein physiologisch nicht möglich. (Es dauert etwas 10-60x so lange, einen Choralsatz zu schreiben wie diesen zu spielen.) Daraus folgt: Je höher das Tempo, desto großzügiger sollten wir mit unseren „Fehlern“ umzugehen bereit sein.
GENERALBASS
„Die Clavierkunst wird mehrenteils in 4 Theile abgetheilet. Der Generalbaß ist der erste; die Wissenschaft den Choral zu spielen der zweyte; die sogenannte italiänische Tabulatur die dritte; das Fantasiren, oder das Spielen aus eigener Erfindung der vierte.“ (Jacob Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, 1758)
J.S.Bach begann seinen Kompositionsunterricht „mit der Erlernung des reinen 4stimmigen Generalbaßes (…). Hernach ging er mit ihnen an die Choräle; setzte erstlich selbst den Baß dazu, u. den Alt u. den Tenor mussten sie selbst erfinden. Alsdenn lehrte er sie selbst Bässe machen.“ (C.Ph.E.Bach, Biographische Mitteilung über Johann Sebastian Bach)
„Der General-Bass ist das vollkommenste Fundament der Music, welcher auf einem Clavier gespielet wird mit beyden Händen, dergestalt, daß die linke Hand die vorgeschriebene Noten spielet, die rechte aber Con- und Dissonantien dazu greiffet, damit dieses eine wollklingende Harmonie gebe, zur Ehre Gottes und zulässiger Ergetzung des Gemühts.“ (Friedrich Erhardt Niedt)
I. Generalbassnotation (Spielen nach bezifferten Bässen)
Grundprinzip: Ausgegangen wird vom Grunddreiklang 1-3-5, beziffert werden nur jene Akkordtöne über dem Basston, die von diesem abweichen.
„Da die Generalbassschrift eine Sprache von Musiker*innen für Musiker*innen ist, setzt sie satztechnisches Knowhow voraus. Beim Realisieren eines Generalbasses sollen die kontrapunktischen und harmonischen Vorgänge immer aktiv nachvollzogen werden. Die Realisierung eines bezifferten Basses ist also kein bloßes „Malen nach Zahlen“, sondern ein kreativer Akt im Rahmen eines stilistischen Regelwerks.“ (Prof. Hans Aerts auf Glarean: https://glarean.mh-freiburg.de/goto.php?target=wiki_5579_Generalbass-Signaturen)
Musikalische Sätze bestehen aus Schlüssen (Kadenzen), Gängen (Sequenzen) und Sätzen (z.B. Oktavregel, Bassmodelle).
Übung: Kadenzen (semplice, composta, doppia etc.)
Übung: Sequenzen (mit parallelen Oberstimmen, fallende und steigende Sequenzen)
Übung: Aussteigen aus Sequenzen (etwa durch die Einführung von Vorzeichen), Anschließen mit einer Kadenz
Übung: Oktavregel (Dur und moll) (evtl. mit Kartimento-Set)
Übung: Eröffnungsmodelle (Orgelpunkt, Bassvorhalts-Eröffnung)
Übung: Improvisation einer Folge von Eröffnungsmodell – Sequenz – Kadenz (usw.)
Übung: Beispiele aus J.S.Bach: Schemellis Gesangbuch BWV 439-507, oder C.Ph.E. Bach: Lieder Wq 199-202
Übung: Czerny: Studien zur praktischen Kenntnis aller Akkorde des Generalbasses op.838
II. Partimento (Spielen nach unbezifferten Bässen)
„A partimento is a thread that contains in itself all, or most, of the information needed for a complete composition.“ (Giorgio Sanguinetti)
„Partimento is understood as a notational device, most commonly written on a single staff in F clef, either figured or unfigured, applied both in playing and in writing activities, and used for developing skills in the art of accompaniment, improvisation, diminution and counterpoint.“ (Peter van Tour)
Nun geht es darum, auch ohne Ziffern die passenden Harmonien zu finden: Ich empfehle, zunächst stets zweistimmig zu üben: als zweistimmiger Kontrapunkt Note gegen Note. Dann kann eine dritte Stimme hinzugefügt werden, erst zuletzt möge man mit ganzen Akkorden arbeiten. Dabei gibt es eigentlich nur drei Möglichkeiten: Parallelbewegung, Gegenbewegung oder Seitenbewegung: Beachtet man das Verbot von Quint-/Oktavparallelen, scheiden einige der Lösungen aus.
a) Erfinden Sie eine Oberstimme zum Basso continuo,
b) Erfinden Sie eine dritte Stimme als Zweitstimme (Unter- oder Überstimme) zur Melodie.
c) Spielen Sie einen passenden Akkord zum Basso continuo.
Eine Fülle von Partimenti zum Üben findet sich bei Robert O. Gjerdingen: Monuments of Partimento (online)
https://web.archive.org/web/20170704201101/http://faculty-web.at.northwestern.edu/music/gjerdingen/partimenti/collections/Fenaroli/Book1/index.htm
III. Anwendungen von Generalbass/Partimento:
1) Generalbass – Improvisation:
* Die in der Generalbasslehre beschriebenen „Standardsituationen“ sind ein gutes Handwerkszeug für die stilgebundene Improvisation: Sätze, Kadenzen und Sequenzen können frei und vielfältig zu Fantasien miteinander kombiniert werden (sofern man sie zunächst einzeln in allen Tonarten geübt hat).
a) Improvisieren Sie über Oktavregel-Etappen
b) Üben Sie das Auszieren von Kadenzen
c) Üben Sie das Figurieren sowie das „Aussteigen“ aus Sequenzen
d) Kombinieren Sie Sequenzen und Kadenzen zu einer freien Fantasie
* Weitere Möglichkeiten sind das Improvisieren von mehrstimmigen Sätzen (z.B. Chorälen) über ein Generalbassmodell und die Kombination mit freien Zwischenspielen zu einer Choralfantasie.
a) Improvisieren Sie einen mehrstimmigen Satz über ein Generalbassmodell
b) Improvisieren Sie freie melodische Linien über dasselbe Modell
c) Kombinieren Sie beides zu einer Choralfantasie
2) Generalbass – Komposition:
* Hier gelten dieselben Gedanken wie bei der Improvisation über Bässe, nur dass diese hier genauer geplant und ausgearbeitet werden können. Eine Basisübung ist das schriftliche Aussetzen eines Generalbassmodells. Künstlerische Anwendungen solcher Modelle könnten im Erfinden unterschiedlicher Tänze oder Charakterstücke auf der Basis derselben Harmoniefolge liegen (Eine Anleitung dazu liefert F. E. Niedts Handleitung zur Variation, entsprechende Literaturbeispiele sind etwa die Suiten Händels). Diese können zunächst improvisatorisch erprobt und dann notiert werden.
a) Setzen Sie eine Harmoniefolge schriftlich aus
b) Überlegen Sie sich einen passenden Tanzrhythmus (oder Groove) zu dieser Harmoniefolge
c) Erfinden Sie eine zu der Harmoniefolge passende Melodie
3) Generalbass – Literaturspiel:
* Werke der Klavierliteratur können nach bestimmten Bassfortschreitungen und Harmoniemodellen abgesucht und die Unterschiede in der Ausführung analysiert werden. Die Improvisation über die den Werken zugrunde liegenden Bassmodelle kann ein guten Einstieg in die Erarbeitung eines speziellen Stücks sein.
a) Finden Sie Literaturbeispiele für bestimmte Bassmodelle bzw. Kadenzen und Sequenzen
b) Improvisieren Sie etwas „Ähnliches“ über das in der Literatur verwendete Bassmodell
c) Improvisieren Sie, wie in Händel-Suiten, verschiedene Tänze über dasselbe Bassmodell
4) Generalbass – Blattspiel:
* Für das schnelle Erfassen von Strukturen ist das Erkennen von sich wiederholenden Mustern Sequenzen und formgebenden Einschnitten (Kadenzen) von entscheidender Bedeutung: wo fließt die Musik und wo schließt sie? Wie lassen sich Sequenzen (Wiederholungsmodelle) auf einen Blick identifizieren? Wo gibt es Quintfälle oder andere typische Klauseln? Das Suchen nach solchen Strukturen kann spielend, aber auch rein lesend erfolgen.
a) Identifizieren Sie sämtliche Kadenzen, die Sie finden können – so schnell wie möglich
b) Identifizieren Sie Sequenzen anhand sich wiederholender Bassformeln
5) Generalbass – Audio-Transkription:
* Für das Raushören von Musik ist es überaus hilfreich, bei der Bassstimme zu beginnen und daraus die Harmonik zu erschließen. Es kann auch eine Leadstimme in Partimento notiert werden, die zwischen Bass und Diskant wechselt (z.B. in Fugen)
a) Hören Sie erst die Bassstimme heraus und ergänzen Sie dann näherungsweise die Harmonik, notieren Sie diese in Generalbass-Signaturen.
b) Erstellen Sie ein Partimento (Leadstimme) eines gegebenen Stücks anhand einer Aufnahme.
6) Generalbass – Arrangement:
* Den Tönen der im Generalbass skizzierten Harmonien können unterschiedliche Funktionen zugewiesen werden (Melodie, Begleitung) bzw. diese mit Oktavierungen und Verdopplungen versehen werden. Ein Partimento kann eine Zwischenstation für ein auszuarbeitendes Arrangement mit entsprechenden Zuweisungen sein.
a) Weisen Sie den Akkordtönen eines Generalbassmodells Funktionen zu.
b) Erstellen Sie ein Partimento, in dem Sie notwenige Stimmverläufe notieren und den Rest beziffern (oder auch nicht).
c) Arrangieren Sie eine existierende Generalbassaussetzung um.
7) Generalbass – Partiturspiel:
* Die Generalbassbezifferung enthält oft schon eine Menge Hinweise auf die in der Partitur enthaltene Stimmführung, es genügt also schon oft, die Basslinie auszusetzen und einzelne Details zu ergänzen (man muss dann gar nicht die ganze Partitur realisieren, höchstens wesentliche Melodiestimmen).
* Oftmals findet sich in Barockmanuskripten die Verwendung des Sopranschlüssels (etwa im Schemelli-Gesangbuch).
* Transponieren kann geübt werden, indem man nur den Generalbass transponiert und die Aussetzung einfach in der neuen Tonart vornimmt.
a) Spielen Sie in einer Partitur nur den Generalbass und schauen Sie danach, was dann noch fehlt
b) Spielen Sie aus Originalhandschriften, die noch den Sopranschlüssel verwenden
c) Transponieren Sie den Generalbass mitsamt Aussetzung in eine andere Tonart.
8) Generalbass – Ensemblespiel:
* Die zentrale kammermusikalische Gattung der Barockzeit ist die Triosonate: Sie ist durch zwei gleichrangige Oberstimmen über einem Generalbass gekennzeichnet. Der Bassspieler spielt einen Gerüstsatz, über den zwei weitere Spieler Melodien improvisieren können.
a) Spielen Sie zunächst über ein einfaches Kadenzmodell zwei Oberstimmen: diese beginnen von unterschiedlichen (vorher verabredeten) Akkordtönen aus und halten ihre Gerüsttöne auf schwerer Zeit in derselben Lage.
b) Variieren/Diminuieren Sie die zwei Oberstimmen möglichst frei und vielfältig.
c) Probieren Sie dasselbe über einem Generalbass-Satz.
9) GENERALBASS – LEADSHEET
Hier entsteht eine erste Schnittstelle zwischen den beiden heute thematisierten Disziplinen – sie entspricht dem Übergang im harmonischen Denken vom Fundament (Bass) aus zum Denken von einer Melodiestimme aus.
* Um diesen Übergang nachzuvollziehen, lohnt es sich, zu einem gegebenen Generalbass die entsprechenden Harmonien zu notieren (z.B. A-moll), die Bezifferung also in Akkordsymbole zu übersetzen.
a) Übertragen Sie die Generalbass-Signaturen eines Stücks in Akkordschrift.
b) Notieren Sie ein Stück, das auf einem Generalbass beruht, als Lead Sheet (Melodie und Akkordsymbole).
Die Abkehr vom Generalbass als musikalisches Grundprinzip zu einem eher melodieorientierten Stil vollzog sich mit dem Ende des Barockzeitalters und dem Beginn der Klassik. Seit Mitte des 18.Jahrhunderts entstanden unzählige Volkslieder, von denen eine große Zahl heute noch gesungen wird.
AKKORDSYMBOLE/LEADSHEET
„Die hier beschriebene Akkord-Symbolschrift wird vor allem in Jazz und Popularmusik benutzt. Mit ihr können die in einem Stück auftretenden Harmonien ohne Noten kompakt dargestellt werden. Dadurch kann eine Melodie improvisierend mit großer Freiheit begleitet werden.“ (Wikipedia)
Genau wie beim Generalbass wird von Grundakkorden mit Grundton, Terz und Quinte ausgegangen, die mit Großbuchstaben (und dem Zusatz „m“ für moll) bezeichnet werden. Abweichungen vom Grundakkord werden mit Ziffern und Alterationen notiert (z.B. Am7b5).
I. Leadsheets ohne Akkordsymbole (Volkslieder)
Vorbemerkung: Der größte Teil der heute noch bekannten deutschen Volkslieder stammt aus dem 18./19.Jahrhundert und damit stilistisch aus der Klassik/Romantik. Es empfiehlt sich daher, auf die in vielen Leadsheets angegebenen Akkordsymbole zu verzichten (diese eignen sich eher für Gitarrenbegleitung als für das Klavier) und statt dessen die Melodie mit einer Zweiten Stimme zu versehen, die ihr in parallelen Terzen oder Sexten folgt.
Übung: Singen Sie ein Ihnen vertrautes Volkslied (oder einen Popsong) aus dem Gedächtnis, versuchen Sie dasselbe dann am Klavier nachzuspielen.
Übung: Spielen Sie ein Volkslied aus einem Leadsheet ohne Akkorde und versuchen Sie, 1.) eine Zweitstimme in parallelen Terzen oder Sexten zu finden, 2.) passende Basstöne zu ergänzen, und 3.) ein Begleitmuster zu entwickeln.
* Zum Üben von Leadsheets ohne Akkordsymbole eignet sich Hösl: Liedersammlung für den Tonsatzunterricht
* Für Volkslieder mit Akkordsymbolen: www.liederprojekt.org
II. Leadsheets mit Akkordsymbolen (Rock/Pop, Jazz)
Für eine Übersicht der gängigsten Akkorde und ihrer Schreibweise(n) beziehe ich mich auf das Arbeitsblatt Grundlagen der Jazzharmonik von Prof. Ralf Schmid. In seiner Darstellung werden
* leitereigene (Sept-) Akkorde vier Kategorien zugeordnet:
– Dur / Major-Akkorde (Akkorde der I. und IV. Stufe)
– Dominant-Akkorde (Akkorde der V. Stufe)
– Moll-Akkorde (Akkorde der II., III. und VI. Stufe)
– (Halb) Verminderte Akkorde (Akkorde der VII. Stufe)
* Die Akkorde der jeweiligen Kategorien werden durch Terzschichtung beliebig erweitert: 135-7-9-11-13.
* Schließlich müssen die solchermaßen erweiterten Akkorde in eine spielbare Form (Voicing) gebracht werden.
* Die wichtigste Verbindung der Akkorde zueinander ist die II-V-I-Verbindung: sie ist die Standard-Kadenz im Jazz.
Übung: Quintfallsequenzen in verschiedenen Voicings – jeweils am Ende steht die II-V-I – Verbindung.
Übung: diverse Leadsheets aus Pop und Jazz (aus: The Standard Real Book oder Jazz Fake Book)
Ein wichtiger Unterschied zum Generalbass sei abschließend besonders hervorgehoben: Popularmusik ist grundtönig und umkehrungsarm – das bedeutet, der Grundton ist in den allermeisten Fällen auch der Basston. Wo dies nicht der Fall ist, wird der Akkord als sogenannter slash chord, also mit Schrägstrich notiert: C/E bedeutet C-Dur über dem Basston E (also ein 6-Akkord).
III. Anwendung der Akkordschrift:
1) LEADSHEET – GENERALBASS:
Hier haben wir die zweite Schnittstelle der heute besprochenen Disziplinen: Da in der Akkordschrift die Grundtöne als Basstöne explizit mitnotiert werden, aber noch keine vollständigen Basslinien ergeben, ist es sinnvoll, diese improvisierend zu üben. Wenn fertige Basslinien existieren, können die Harmonien auch in Form von Generalbass-Bezifferungen umgeschrieben werden.
a) Erfinden Sie eine Basslinie zu einer in Leadsheet notierten Harmoniefolge.
b) Übertragen Sie die Harmonien über der Basslinie in Generalbass-Signaturen.
2) Leadsheet – Improvisation:
* Die in der Klassik, aber auch in Pop und Jazz typischen Kadenzen sind ein gutes Handwerkszeug für die stilgebundene Improvisation. Diese können vielfältig mit unterschiedlichen Stilpatterns kombiniert werden, vorausgesetzt sie werden zunächst einzeln (in allen Tonarten) geübt.
a) Improvisieren Sie über eine Kadenz aus Klassik, Pop und Jazz.
b) Kombinieren Sie verschiedene Kadenzen und Stilpatterns.
* Es lassen sich auch über die Akkordfolgen von Leadsheets Soli oder Vor-, Nach- und Zwischenspiele improvisieren
a) Improvisieren Sie ein freies Solo über das Harmonieschema eines Songs
b) Improvisieren Sie ein freies Vor-, Nach- oder Zwischenspiel
3) Leadsheet – Komposition:
* Eine Basisübung ist das schriftliche Aussetzen eines Grooves über eine bestimmte Akkordfolge. Künstlerische Anwendungen eines solchen Modells könnten im Erfinden unterschiedlicher Patterns oder Grooves auf der Basis derselben Harmoniefolge liegen. Diese können zunächst improvisatorisch erprobt und dann skizziert werden.
* Eine weitere Möglichkeit ist das Reharmonisieren von bekannten Liedern durch Austauschen von Akkorden. Grundprinzip: Jeder Melodieton kann ein beliebiger Harmonieton sein – von 1-3-5 bis hin zur #11 oder b13.
a) Setzen Sie eine Harmoniefolge schriftlich als Groove aus.
b) Überlegen Sie sich verschiedene Grooves/Patterns zu derselben Harmoniefolge.
c) Suchen Sie nach alternativen Harmonisierungen.
4) Leadsheet – Literaturspiel:
* Es ist sinnvoll, die Literatur nach bestimmten Harmoniefolgen (z.B. Kadenzen) abzusuchen, diese in Akkordsymbolen zu notieren und die Besonderheiten der Ausführung zu analysieren. Die Improvisation über zugrunde liegende Harmoniemodelle kann ein guter Einstieg in die Erarbeitung eines speziellen Stücks sein. Besonders anhand klassischer Tänze (Walzer, Menuett) mit sehr einfachen Harmoniemodellen können typische klassische Patterns studiert werden.
a) Finden Sie Literaturbeispiele für bestimmte Harmoniefolgen/Kadenzen
b) Analysieren Sie die Harmonik in einem bestimmten Werk und notieren Sie die Akkordsymbole
c) Improvisieren Sie etwas Ähnliches über die in der Literatur verwendete Harmoniefolge
d) Improvisieren Sie klassische Tänze über dieselbe Harmoniefolge.
5) Leadsheet – Blattspiel:
* Für das schnelle Erfassen von Strukturen ist das Erkennen von Harmoniefolgen/Kadenzen von entscheidender Bedeutung: wo gibt es charakteristische Wendungen, wo finden Modulationen oder Tonartwechsel statt? Wie lassen sich harmonische Verläufe auf einen Blick identifizieren? Wo gibt es sich wiederholende Muster, die sich auf harmonische Fortschreitungen reduzieren lassen?
a) Erkennen Sie so schnell wie möglich Harmonien und Kadenzen/Sequenzen.
b) Identifizieren Sie Muster im harmonischen Verlauf.
6) Leadsheet – Audio-Transkription:
* Für das Raushören von Musik ist es überaus hilfreich, bei der Bassstimme zu beginnen und daraus die Harmoniefolge zu erschließen. Es kann auch die Melodiestimme notiert werden, mit oder ohne die dazugehörigen Harmonien. Der Rest kann in Akkordsymbolen abgekürzt werden. Orientierung beim Hören bieten genau wie beim Lesen die Kadenzen und Sequenzen.
a) Hören Sie erst die Bassstimme heraus und notieren Sie Akkordsymbole.
b) Erstellen Sie ein Lead sheet mit Akkordsymbolen eines gegebenen Stücks.
c) Spielen Sie ein Stück mit Hilfe eines Lead sheets und einer Aufnahme ungefähr nach.
d) Spielen Sie ein Stück mit Hilfe eines Chord sheets (z.B. www.ultimate-guitar.com) und einer Aufnahme ungefähr nach.
7) Leadsheet – Arrangement:
* Den Tönen der in der Akkordschrift skizzierten Harmonien können unterschiedlichen Funktionen zugewiesen werden (Melodie, Begleitung) bzw. mit Oktavierungen und Verdopplungen versehen werden. Die notierte Melodie kann dabei auch in die Mittelstimme wandern und von den anderen Stimmen umspielt werden.
a) Weisen Sie den Akkordtönen verschiedene Funktionen zu (Parallelstimme, Oberstimme, Begleitung etc.).
b) Arrangieren Sie Melodie und Begleitung eines bekannten Stücks um (z.B. durch Lagenwechsel).
8) Leadsheet – Partiturspiel:
* Die Akkordsymbole enthalten oft schon eine Menge Hinweise auf die in der Partitur enthaltene Stimmführung, es genügt also schon oft, den Akkordsatz zu spielen und einzelne Details zu ergänzen. Auch Transponieren kann vereinfacht werden, wenn man nur die Akkorde transponiert und die Aussetzung in der neuen Tonart vornimmt.
a) Spielen Sie in einer (Pop/Jazz-) Partitur zunächst nur nach Akkordsymbolen und schauen Sie danach, was dann noch fehlt
b) Spielen Sie in einem (Pop/Jazz-) Klavierauszug zunächst nur nach Akkordsymbolen und schauen Sie danach, was dann noch fehlt.
c) Transponieren Sie das Akkordschema eines Leadsheets und ergänzen Sie den Rest.
9) Leadsheet – Ensemblespiel:
* Die klassische Besetzung im Jazz ist das Trio aus Klavier, Bass und Schlagzeug (alternativ auch Soloinstrument, Klavier und Bass). Das Akkordschema bildet die gemeinsame harmonische Grundlage, auf der eine Bassstimme, die Akkordbegleitung und ein bis zwei Melodie-/Solostimmen verabredet werden (hierbei lässt der Pianist die Bassstimme meist weg). Dann improvisiert jeder Spieler seinen eigenen Part, es können abwechselnd Soli improvisiert werden.
a) Spielen Sie ausgehend von einem Harmonieschema drei unterschiedliche Parts (Bass, Akkorde, Melodie)
b) Spielen Sie abwechselnd Soli über das Harmonieschema.
WEITERE ANWENDUNGSMÖGLICHKEITEN
* Integration von grundlegenden Übungen in Generalbass/Partimento und Leadsheet/Akkordschrift in die tägliche Praxis:
– Übung in Sätzen, Kadenzen und Sequenzen
– Freies Fantasieren unter Bezug auf die Sätze, Kadenzen und Sequenzen
– Üben der Umsetzung von Generalbass-Signaturen und Akkordsymbolen durch Blattspielen
* Schreiben von eigenen Songs
– Notieren von Melodieeinfällen in Leadsheetnotation
– Notieren von Bassmodellen in Generalbassnotation
* „Cross-Over“: Übertragen von einem Stil in den anderen
– Barock „verjazzen“ (z.B. wie Jacques Loussier oder Helmut Lörscher)
– Popsongs im „klassischen“ Stil spielen
* Gehörbildung: Stücke anhand von Aufnahmen heraushören und als Leadsheet oder Generalbass notieren
* Anwendung der beschriebenen Übungen auf aktuell studierte Werke
* Entwicklung weiterer Methoden und Verknüpfungen der Disziplinen