ANGEWANDTES KLAVIERSPIEL
EINE ART VORWORT
Ein Wort dazu, wie es dazu kam: Ich bin als klassischer Pianist ausgebildet, mit einem Faible für die Musik der Gegenwart und alles, was groovt. Wettbewerbe sind mir fremd, daher habe mich diesen nie ausgesetzt, dafür aber so ziemlich jede andere Herausforderung angenommen, die sich mir als pianistischem Freelancer bot. Dabei habe ich viel Neues darüber gelernt, was man mit dem Klavier so alles machen kann. Und was die Welt von uns Pianisten erwartet: das Unmögliche …
Wenn Sie heute gebeten werden, in einem Filmmusikkonzert Ihres Stadttheaters mitzuwirken, kann es sein, dass Sie in einem Programm zehn verschiedene Musikstile auf vier unterschiedlichen Tasteninstrumenten spielen (mit teilweise schlampig notierten oder nur durch Akkordsymbole angedeuteten Stimmen). Oder man lädt Sie zu einer Regiesitzung eines Opernhauses, wo man Sie bittet, beliebige Stellen einer Oper anzuspielen und sämtliche Gesangspartien mitzusingen. Oder man engagiert Sie für ein Cross-Over Projekt, zu dem man Ihnen gar keine Noten schickt, sondern eine Youtube-Playlist, aus der Sie sich Ihren Part bitte selber raushören sollen…
Dies sind nur drei von vielen Beispielen, die mir in meinem Berufsleben tatsächlich begegnet sind. Man könnte sie als skurrile Ausnahmen abtun. Doch habe ich zunehmend das Gefühl, dass derart ungewöhnlichen Arbeitsaufträge an Pianisten auf dem freien Markt eher die Regel sind und einen speziellen Muster folgen.
Dieses Muster heißt: grenzenlose Flexibilität.
Die herausragenden Pianisten der Vergangenheit waren Alleskönner: sie haben komponiert, improvisiert, arrangiert, dirigiert, waren Pädagogen und Publizisten. Wir, die Nachwelt, bewundern solche Genies wie Chopin und Liszt – sind sie Vorbilder für uns, jedoch: unser Nacheifern nimmt sich recht einseitig aus. Ich denke, nach einem Jahrhundert extremer Spezialisierung wäre es einen Versuch wert, den Universalisten in uns wieder wachzurufen.
Und das ist gut möglich, denn Flexibilität und Vielseitigkeit kann man üben.
Wie? Indem man das Üben flexibler und vielseitiger gestaltet. Indem man sich dehnt und weitet – musikalisch, technisch, stilistisch, geistig – über alles hinaus, was man kennt, in die Bereiche hinein, die man noch nicht kennt. Vor allem dorthin, wo Kreativität gefordert ist und gefördert wird. Das ist wunderschön und vollkommen ungefährlich. Man dehnt und weitet den eigenen Horizont – und jeder Horizont ist ja per se grenzenlos und führt uns immer weiter hinaus in die Unendlichkeit.
Dort ist Platz für jeden – jeder Künstler hat seinen Ort und seine Daseinsberechtigung. Dafür möchte ich ausbilden: dass jede und jeder ihren und seinen ganz eigenen Platz im Musikleben findet.
Ich unterrichte hier zum Teil Dinge, die ich selber noch nie gemacht habe. Es geht mir auch nicht darum, fertige Konzepte zu präsentieren, sondern viel eher darum, die Lust am Experimentieren und am Kreativen Tun zu wecken – erstens, weil ich Herausforderungen liebe (und keinerlei Angst vor ihnen habe), und zweitens, weil unser ganzes Leben voll von solchen Dingen ist: Man kann einfach nicht auf alles gefasst sein, was einem zustößt – wir sind ohne Betriebsanleitung auf das Raumschiff Erde gesetzt und müssen irgendwie klarkommen. Wer sich davon nicht abschrecken lässt und die Herausforderung annimmt, der gewinnt jede Menge Mut und Spaß am Leben.
ANGEWANDTES KLAVIERSPIEL
Angewandtes Klavierspiel vermittelt die möglichst umfassende Breite künstlerischer Fertigkeiten, die in der gegenwärtigen Musikwelt von professionellen Pianisten gefordert werden können.
Die im Folgenden dargestellten 10 Disziplinen leiten sich aus drei verschiedenen Quellen ab, die im Modell des Angewandten Klavierspiels zusammenfließen:
– die eigene berufspraktische Erfahrung („was einem als Pianist alles so passieren kann“)
– die Praxis und Lehre der pianistes-compositeurs (Vorbilder aus einem „Goldenen Zeitalter“ des Klavierspiels)
– Ansätze in verwandten Fächern, mit denen stärkere Vernetzung wünschenswert ist, z.B. Klavierpraxis in der Musiktheorie, Gehörbildung, Schulpraktisches Klavierspiel, Korrepetitionslehre etc.
Die 10 Disziplinen:
* Literaturspiel = das klassische Werkstudium, Erarbeitung von Recital-Programmen und Concerti
* Blattspiel = Prima Vista-Spiel
* Improvisation = frei und stilgebunden
* Komposition = freie Komposition, historischer Tonsatz und Songwriting
* Generalbass/Partimento = Spielen nach bezifferten und unbezifferten Bässen
* Akkordsymbole/Leadsheet = Spielen nach notierten Melodien mit und ohne Akkordsymbole
* Audio-Transkription = Spielen nach Gehör, angewandte Gehörbildung am Klavier
* Arrangement = Bearbeiten und Einrichten von Musik für Klavier
* Partiturspiel = Spielen aus Partituren/Klavierauszügen in div. Schlüsseln und Transpositionen
* Ensemblespiel = der Pianist als Teamplayer in unterschiedlichen Besetzungen
Die 10 Disziplinen bilden untereinander ein Balance Wheel – jeweils zwei einander gegenüber stehende Fertigkeiten mögen ausgeglichen behandelt werden, z.B. Literaturspiel und Blattspiel
Die Kombination und Vernetzung der Disziplinen führt zu einer nahezu unendlichen Vielfalt neuer Methoden, die nach Bedarf und Geschmack angewendet werden können: z.B. Literatur und Komposition = Komposition einer Etüde über ein technisches Problem aus einem Werk.
Jede Kombination bietet unterschiedliche, auch entgegengesetzte Perspektiven einer Disziplin auf die andere – die Grundidee sei, dass alle Disziplinen so voneinander profitieren können. Es ist auch möglich, drei oder mehrere Disziplinen miteinander zu vernetzen.
Im Zentrum diese Überlegungen steht die Forschung des Differenziellen Lernens – Lernen durch Vielfalt, Variation, Abwechslung. Hier wird im Gegensatz zum üblichen Vorgehen nicht wiederholt, bis es besser wird, sondern der Lösungsraum weiträumig abgetastet. Es ist davon auszugehen, dass dieser Ansatz zu einem enormen Zuwachs von Kreativität, Spielfreude und ggf. neuen persönlichen Schwerpunkten führt.
Die Disziplinen und die daraus abgeleiteten Methoden des Differenziellen Lernens sollen im Rahmen des Seminars darüber hinaus auf mitzubringende Werke angewandt werden.
Durch das Modell des Balance Wheel bietet sich zusätzlich die Möglichkeit eines persönlichen Feedbacks: jeder kann sich jederzeit in den 10 Disziplinen selbst bewerten – jedoch nicht danach, wie gut man in einer Sache ist, sondern wie zufrieden man ist.
Schließlich sei noch erwähnt, dass mit dieser Darstellung keinerlei stilistische Vorgaben gemacht werden. Besonders erwünscht ist ein denkbar breiter, ideologiefreier Zugang zu einer Fülle von Stilen, die neben allen historischen Epochen und Weltmusiken auch in der Gegenwartsmusik die scheinbaren Gegensätze von Popularmusik und „Ernster“ Neuer Musik in sich vereinigt.
AUSBLICK
Das hier vorgeschlagene Modell ist weder nach außen hin abgeschlossen noch in sich komplett erforscht. Eine gemeinschaftliche Weiterentwicklung ist dringend erwünscht. So wäre zu erforschen
– welche Möglichkeiten es im Hinblick auf bestimmte Berufsbilder bietet
– welche Potenziale es in der pädagogischen Arbeit, z.B. in der Musikschule birgt
– welche neuen künstlerischen Perspektiven sich für eine Musik des 21. Jahrhunderts gewinnen lassen